Rudi Völler hatte es unter der Woche behauptet – und wer will schon dem einen, leibhaftigen Rudi Völler widersprechen? Jetzt beginne nochmals ein neues Turnier, sagte der Sportdirektor des DFB, der während der EM der deutschen Mannschaft als dreitagebärtiger Championtas-Connoisseur zur Verfügung steht: Hier mal eine aufmunternde Plauderei, dort mal Teilhabe an seinem wahrhaft reichen Erfahrungsschatz. Selbstverständlich liegt Völler vollkommen richtig mit der Aussage, das Turnier beginne nun nochmal neu. In den ersten drei Spielen hätte der Modus noch einen Ausrutscher erlaubt. Genau genommen hätte es ja nicht einmal eines einzigen Sieges bedurft, um sich für das nun beginnende Turnier zu qualifizieren. Die Dänen haben es gezeigt.
Mit dem Start in die K.-o.-Phase sind jetzt aber Schlampereien verboten. Eine Niederlage, schon ist es vorbei. Auch das ja eine der Weisheiten, die sich über Jahrzehnte hinweg als wahr erwiesen hat: Kleinigkeiten können entscheidend sein. Zwei Zentimeter in etwa. Die sind nun wirklich nicht viel. Rudi Völlers Strähnen sind länger. Zwei Zentimeter aber können mitentscheidend für die Aufstellung der deutschen Nationalmannschaft in der Partie gegen Dänemark sein (21 Uhr, Magenta TV, ZDF).
Im Schnitt nämlich sind die dänischen Spieler zwei Zentimeter größer als die deutschen. Den stattlichen 1,85 Metern der Nagelsmann-Elf stehen 1,87 dänische Meter gegenüber. Nicht viel, aber weil die Abwehrspieler noch dazu über mächtige Präsenz und ein akkurates Kopfballspiel verfügen, dürfte das deutsche Mittel der Wahl nicht im beständigen Hereinflanken des Balles liegen. Für die bevorzugten kleinteiligen Lösungen aber wäre Kai Havertz die adäquatere Alternative zum kantigen Niclas Füllkrug – der überraschenderweise auch vier Zentimeter kürzer als Havertz vermessen wurde.
Erinnerungen an das WM-Achtelfinale 2014
Am liebsten würde es die deutsche Mannschaft auf derartige Kleinigkeiten gar nicht erst ankommen lassen. Den Schwung aus der Vorrunde mitnehmen, individuelle sowie taktische Klasse ausspielen und einen souveränen Sieg einfahren. Das wär’s. Aber auch das haben die vergangenen Jahrzehnte intensiver Turnieranalyse gezeigt: Es läuft nur selten nach Plan. Die Deutschen erinnern sich mit freudvollen Schrecken an das Achtelfinale der WM 2014. Im Nachhinein wird die Partie gegen Algerien als moralisch aufpumpender Meilenstein auf dem Weg zum Titel interpretiert. Ein bisschen weniger Glück und Manuel Neuer hätten aber eben auch das Aus bedeutet.
Noch dazu hat die Mannschaft des Jahrgangs 2024 noch nie gemeinsam unter derartigem Erwartungsdruck gestanden. Ein Rückstand gegen die Schweiz: lässlich. Gegen die Dänen: besser nicht ausprobieren. Als unterstützenden Faktor wird im Kreise der Mannschaft allenthalben der Austragungsort des Achtelfinales betrachtet. In Dortmund müsse man sich keine Sorgen um tosende Unterstützung machen, sagte beispielsweise Füllkrug. Auch Bundestrainer Julian Nagelsmann dürfte froh sein, dass nun endlich im stimmungsvollsten aller deutscher Stadien gespielt wird. Nach dem 1:1 gegen die Schweiz hatte er gar nicht mal besonders verklausuliert die Atmosphäre in der Frankfurter Arena kritisiert: "Ich glaube, wir haben das Stadion aufgeweckt, was wichtig war. Es war davor schon sehr ruhig", sagte er nach dem späten Ausgleich durch den eingewechselten Füllkrug.
In Dortmund muss sich die DFB-Elf keine Sorgen um die Unterstützung machen
Weil es dann aber doch recht lärmte und noch dazu der Treffer durch das Zusammenwirken zweier Einwechselspieler zustande kam, wollten Berichterstatter und Fans mitunter Quervergleiche zur WM 2006 ziehen. Weil ja damals Odonkor auf Neuville, Nachspielzeit, Tor, Jubel. Allerdings war die Mannschaft damals nach vorne getrieben worden. Der irrsinnige Lärm nach dem Treffer resultierte nicht aus der Überraschung, sondern aus potenzierter adrenalingeschwängerter Erlösung.
Das nächste Spiel, welches die deutsche Mannschaft in Dortmund damals absolvieren sollte, war das Halbfinale gegen Italien. Deutschland verlor mit 0:2. Gleichwohl ist die Heimstätte des BVB das Lieblingsstadion der meisten Nationalspieler. Nirgendwo sonst ist die Unterstützung derart unmittelbar zu spüren. Möglicherweise lässt die Vorfreude darauf auch Muskelfasern schneller verheilen. Die Zerrung Antonio Rüdigers jedenfalls scheint rechtzeitig zum Duell am Samstag auskuriert. Am Freitag nahm er erstmals wieder am Mannschaftstraining teil. Als gesetzt darf gelten, dass Nico Schlotterbeck für den gesperrten Jonathan Tah in die Innenverteidigung rückt. Ob darüber hinaus David Raum und Niclas Füllkrug neu in die Startelf rücken: Darüber entscheiden möglicherweise Kleinigkeiten.