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Deutschland ist ein guter EM-Gastgeber - mit vielen Problemen

Fußball-EM 2024

Wir sind wieder wer: ein belächelter Riese

Tilmann Mehl
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    Die Stimmung unter den Fans ist ausgezeichnet. Daran ändert auch die
    Die Stimmung unter den Fans ist ausgezeichnet. Daran ändert auch die Foto: Christian Charisius, dpa

    Der Sport ist dann eben doch kein Abbild der Gesellschaft. Nur weil das Team von Julian Nagelsmann begeisternden Fußball spielt, strotzt die Wirtschaft nicht vor Innovationskraft. Das Gegenteil ist der Fall. Der Profisport ist ein unabhängiger Satellit. Höherschnellerweiterreicher – während in der Bevölkerung die Zukunftssorgen wachsen. Die Europameisterschaft: eine willkommene Abwechslung. Außerdem: vielzitierter Spiegel, der einem Land auf der Kippe vorgehalten wird.

    Denn anders als bei den Fußballern ist eine zeitenwendlerische Umkehr per Dekret nicht einfach so möglich. Julian Nagelsmann konnte einfach einen Teil der Mannschaft austauschen, mit ein paar Einzelgesprächen eine funktionierende Hierarchie implementieren, und ein paar Siege später ward die Stimmung gedreht. Olaf Scholz kann keinen Teil der Gesellschaft austauschen – auch wenn er das möglicherweise gerne machen würde. Ihm ist auch nicht die rhetorische Gabe gegeben, herzogesk einen Ruck durch Deutschland schütteln zu lassen. Natürlich ließe sich auch so ein Ruck nicht einfach per gescholzter Regierungserklärung provozieren. Gleichermaßen wäre er nötig. Was nun selbstredend arg großspurig daherkommt, wenn es der Sportreporter einer Tageszeitung fordert.

    Die Gäste sind erstaunt ob der deutschen Mäßigkeit

    Die Europameisterschaft zeigt, dass das jahrelange "Weiter so" trotz aller gegensätzlicher Bekenntnisse vorgeherrscht hat und dieses Land zu einem merkwürdig belächelten Außenseiter geworden ist. Ein tollpatschiger Riese. Da kommen nun also Millionen von Gästen und erfreuen sich an der deutschen Gastfreundschaft und wundern sich über eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die nach Jahren des Darbens attraktiven Fußball zeigt und am Samstag gegen Dänemark wohl den Einzug ins Viertelfinale klarmacht. Die gleichen Gäste sind mehr erstaunt als wütend, dass diese Wirtschaftsmacht im Zentrum Europas infrastrukturell keine K.-o.-Runde dieser Welt erreichen würde.

    Deutschland hat seine Freunde zur großen Party in ein einst herrschaftliches Haus eingeladen. Die Gäste amüsieren sich prächtig, finden es dann aber doch arg eigentümlich, dass das Rollo nicht schließt, die Klingel nicht funktioniert und die Farbe der Fassade abblättert. Aber hey, die Stimmung ist top. Dieses Land hat sich damit arrangiert, dass die Deutsche Bahn einen lachhaften Service bietet. Dass der digitale Wandel schon daran scheitert, eine vernünftige Internetverbindung abseits der urbanen Zentren anzubieten. Briten, Dänen und Holländer verstehen nicht, weshalb sie ihr Bier nicht einfach mit der Karte zahlen können. Cash only. Blöderweise ist das Geld aber hierzulande knapp. Ein wenig Wärmepumpenmurks hier, ein bisschen verhunagelte Mietpreisbremse da. Da bleibt nicht viel über. Immerhin noch freie Fahrt für freie Bürgerinnen und Bürger auf der Autobahn. Leider kann sich kaum jemand ein schnittiges E-Auto germanischen Fabrikats leisten. Dann halt Andieseln gegen den Klimawandel.

    Die Europameisterschaft ist ein wunderbares Turnier. Trotz aller infrastruktureller Lächerlichkeiten fühlen sich die Gäste wohl. Die deutsche Mannschaft hat gerade noch einen Weg gefunden, attraktiv und erfolgreich zu spielen. Dieses zwischen Ängstlichkeit, politischer Korrektheit und Populismus schwankende Land versammelt sich hinter einer Gruppe sympathischer Kicker. Vielleicht das nun aber wirklich allerletzte Lagerfeuer der Nation. Spätestens in zwei Wochen ist die Party vorbei, die Gäste verschwunden. Die Herausforderungen aber bleiben. Sie angehen? Das Haus weiter notdürftig instand halten? Deutsche Angst lähmt die Entscheidung.

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