Russ Bray sieht in etwa so aus, wie man sich hierzulande einen englischen Hafenarbeiter vorstellt: Die Arme voller Tätowierungen (einige Schlangen, viele Dolche, ein paar Kreuze), ein kahler Kopf (das hat die Natur so gewollt) und eine Statur, die zeigt: Der Mann kann anpacken. Das Gewaltigste an dem 66-Jährigen sind aber seine Stimmbänder. Die hören sich an, als ob er sie täglich mit einer intensiven Melange aus filterlosen Zigaretten und einem Liter Bourbon Whiskey auf ihren Einsatz vorbereitet. Woher man das weiß? Wenn sich das Jahr zum Ende neigt, ist Brays Stimme zu hören. Wenn ein Spieler bei der Darts-WM die höchstmögliche Punktzahl erworfen hat, tut das Bray kund – mit einem rauchigen und lang gezogenen "Onehundredandeighty!"
Wenn zwischen Mitte Dezember und Anfang Januar im Londoner Alexandra Palace die weltbesten Pfeilewerfer ermittelt werden, ist Bray – der übrigens als ausgesucht netter Kerl gilt – seit 1996 als Schiedsrichter dabei und längst selbst einer der Stars geworden. Matthew Porter, der Geschäftsführer des Weltverbands PDC, beschreibt seine Stellung wie folgt: Als der Verband anfing, auf Tour zu gehen, sei er im Vorfeld immer gefragt worden, ob mit Phil Taylor und Raymond van Barneveld die damals größten Stars der Szene dabei wären. "Und dann haben die Leute mich auch immer gefragt: Kommt dieser Schiedsrichter mit der ernsten Stimme auch?"
PDC-Referee Russ Bray: "Jetzt ist es Zeit, in den Hintergrund zu treten"
Das tat er. Bislang zumindest. Nun verkündeten Verband und Bray, dass am Ende dieser WM Schluss sein soll. Wenn am 3. Januar 2024 der neue Weltmeister gekürt wird, wird das der letzte Einsatz für Russ Bray sein. "Es gibt ein paar gute junge Talente und ich hatte eine unglaubliche Karriere. Jetzt ist es Zeit, in den Hintergrund zu treten", sagte Bray in einem Video der PDC. Er wird dem Weltverband als Botschafter erhalten bleiben. Stellt sich nur die Frage: Lastet das einen wie ihn aus?
Schließlich geht das Leben mit 66 Jahren erst richtig los. Und Bray hat noch ein weiteres Talent, von dem bislang hier nicht die Rede war: Schon in der Sekunde, in der der Dartpfeil auf der Scheibe einschlägt, hat er nicht nur die Gesamtpunktzahl errechnet, sondern weiß auch, wie viele Punkte noch für den Sieg nötig sind und – das ist dann wirklich Champions League – über welche Punktekombination am Brett man am schnellsten zum siegreichen Wurf kommt.
Heißt also: Dank der Stimme wäre nicht nur Pausenaufsicht, Ersatzsänger bei Scooter und Motivationscoach möglich – dank der enormen Rechenleistung wäre auch locker Mathe-Nachhilfe drin. Vielleicht ist die Stimme doch nicht das Beeindruckendste an Russ Bray.