Dem Mann war die Welt nicht mehr genug. Er bastelte sich eine Superhelden-Gang zusammen, die Glamour, Stil und Körperkunst in einem bisher nicht bekannten Maß verband. Für die Jüngeren unter den Lesern: So etwas wie die Avengers – Jahre bevor Thor, Iron Man und Co. auf die Leinwand geschickt wurden, um die Welt zu retten. So was wie die interstellaren Beatles (für die Älteren). Florentino Perez dachte sich nicht selbst den Namen aus, aber der Präsident von Real Madrid hatte auch nichts dagegen, dass die von ihm zusammengestellte Star-Truppe nur noch als „Los Galácticos“ bekannt war. Die Galaktischen. Die armen Trainer mussten versuchen, Preziosen wie Luis Figo, David Beckham, Zinedine Zidane und Ronaldo (den Alten, die Älteren werden sich erinnern) gemeinsam glänzen zu lassen. Später dann sollte Perez auch noch Kaka und Ronaldo (nun der Jüngere, auch bekannt unter seinem Akronym CR7) verpflichten, für Gareth Bale gab er erstmals in der Fußballgeschichte über 100 Millionen aus. Sein bedeutendster Wechsel – oder wie er gesagt haben soll: „Jahrhunderttransfer“ – war aber jener eines kühlen Blonden, der gerade einmal die lächerliche Summe von 25 Millionen Euro gekostet hat.
Bei keinem anderen habe das Preis-Leistungs-Verhältnis in einem derart gewinnbringenden Verhältnis gestanden wie bei Toni Kroos. Der FC Bayern hat in der Vergangenheit mehr richtig als falsch gemacht, manchmal aber zeigt die Geschichte, dass auch die Titanen rund um den Tegernsee irren können. Dem Kaiser würde ein diplomatisches „ja gutsicherlich ähhhhh“ entfahren, wenn er auf mögliche Fehlentscheidungen hingewiesen würde. So zum Beispiel, einen Übungsleiter zu entlassen, weil er während der Saison einen Hang auf Skiern hinunterwedelt. Eine Kleinigkeit freilich gegenüber dem Frevel, Deutschlands besten Mittelfeldspieler des vergangenen Jahrzehnts für ein unter internationalen Top-Klubs gültiges Taschengeld von 25 Millionen Euro ziehen zu lassen.
Toni Kroos war für Real Madrid ein Schnäppchen
Vor zehn Jahren wechselte Toni Kroos von München zu Real Madrid. Zentraler Mittelfeldspieler beim amtierenden Weltmeister. Ein Schnäppchen. Bei den Bayern aber wussten sie wenig mit ihm anzufangen. Es waren die Bayern von Ribery und Robben, Lahm und Schweinsteiger. Ein von Künstlern bereichertes Mia san Mia. Kroos’ Spielweise wurde noch nicht als Kunst erkannt, und weil er sich nicht mit Verve in Zweikämpfe warf, fehlte den Bossen die Fantasie, wie sie diesen recht feinen, aber nicht sonderlich spektakulären Fußballer in ihr Gefüge einbauen sollten. Pep Guardiola fehlte es nicht an der Fantasie. Aber gegen Rummenigge und Hoeneß ist der Katalane ein Zweiter unter Gleichen.
Zehn Jahre und vier Champions-League-Titel später kehrt Kroos mal wieder an seine alte Wirkungsstätte zurück. Die Königlichen von Real gastieren am Dienstag im Halbfinale der Champions League beim FC Bayern. Eine Runde zuvor hatte Madrid in Manchester City den Titelverteidiger ausgeschaltet, die spanische Meisterschaft ist ihnen so gut wie sicher. Eine richtig schlechte Saison kann das nicht mehr werden. Im Gegensatz zu den Bayern, deren einzige Chance auf einen wohlwollenden Beitrag in der Vereinschronik ein Finaleinzug in der Königsklasse wäre.
Kroos selbst hat längst seinen Frieden mit den Bayern gemacht. Die wiederkehrenden Bemerkungen von Uli Hoeneß, Kroos sei zu langsam für internationales Top-Niveau, ließ er ins Leere laufen wie der Torero einen alten Stier. Zuletzt hatte Hoeneß aber doch tatsächlich die Rückkehr des 34-Jährigen in die Nationalmannschaft goutiert: „Ich begrüße das schon, weil wir von den Persönlichkeiten gerade nicht so große Auswahl haben, da ist die Rückkehr eines sehr erfahrenen, sehr erfolgreichen Spielers eine gute Entscheidung.“ Zurückgeholt hatte ihn übrigens Julian Nagelsmann. Der ja wegen seines Skiausflugs entlassen wurde. Von Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. Für die sich ja Hoeneß eingesetzt hatte. Wer frei ist von Personalfehlern, werfe die erste Abfindungsabmachung.
Kroos ist mittlerweile über sämtliche Zweifel erhaben. Bei seinem Comeback in der DFB-Elf benötigte er im März genau einen Ballkontakt, um nach wenigen Sekunden das 1:0 gegen Frankreich vorzubereiten. Bei den immer noch interstellaren Madrilenen ist er trotz seines fortgeschrittenen Fußballeralters der Fixstern. Er spielte unter anderem unter Guardiola, Zidane und Carlo Ancelotti. War dabei immer gesetzt. Etliche Fans aber sahen in ihm den Querpass-Toni. Einen Akteur, der das Spiel bremst. Expertenmeinung und öffentliches Ansehen gehen nicht immer Hand in Hand. Der bislang erfolgreichste deutsche Spieler haderte zumindest nicht öffentlich damit. Manchmal spielt er auch mit seinem Ruf. Zusammen mit seinem Bruder Felix veröffentlicht er jede Woche einen Podcast. Die beiden sprechen viel über Fußball, gewähren aber auch immer wieder Einblicke in ihr Privatleben.
Der Tätowierer kommt zu Toni Kroos nach Hause
Dabei tut der Star von Real Madrid nicht einmal so, als führe er das normale Leben eines normalen Angestellten. Bereitwillig erzählt der dreifache Familienvater, dass der Tätowierer selbstverständlich zu ihm nach Hause kommt. Er spielt mit Felix Basketball in der eigenen Sporthalle. Es gibt eine eigene Rubrik: „The Real Life“. Dabei stellt er sich Alltagsaufgaben, die er offensichtlich ansonsten selten bis nie erfüllt. Spülmaschine einräumen, einkaufen, Betten beziehen – derlei Tätigkeiten. Für andere Normalität, für ihn speziell. So wie sein Spiel normal wirkt, aber für alle anderen speziell ist.
Einen wie Kroos gab es zuvor nicht im deutschen Fußball. Da waren die energischen Ballack und Matthäus oder die Zauberfüße Netzer und Overath. Wuchtig teutonisch die einen, zur gestalterischen Lässigkeit neigend die anderen. Natürlich noch die Ausnahmeerscheinungen Müller und Beckenbauer. Aber einen mäßig schnellen, nicht sonderlich torgefährlichen Mittelfeldspieler? Auf den ersten Blick ist Kroos geradezu spektakulär unspektakulär. Seine Virtuosität zeigt sich in den Details des Spiels. Jede Ballannahme in den richtigen Raum. Jeder Pass wird präzise zugestellt. Kroos als Werbegesicht für die Bahn oder Post: wäre denkbar. Mit dem Ball am Fuß entweicht er Zweikämpfen. Weil sie ein nur schwer kalkulierbares Risiko darstellen. Kroos aber ist königliches Risikomanagement. Er macht jeden seiner Mitspieler besser.
Halbfinale gegen Bayern München steht in der Champions League an
Wie lange das so bleibt, ist noch offen. Am Ende der Saison läuft sein Vertrag in Madrid aus. Möglicherweise hängt er noch ein weiteres Jahr dran. Erst mal aber steht das Halbfinale gegen die Bayern an. Im Sommer dann soll er die deutsche Nationalmannschaft beim Heimturnier möglichst zum Titel führen. Nagelsmann hat sich sehr um seine Rückkehr bemüht. Bei der EM 2012 sollte er als Kettenhund des italienischen Feingeists Andrea Pirlo wirken. Vergeudet. Deutschland schied aus. Vier Jahre später kostete ein Handspiel von Bastian Schweinsteiger den Finaleinzug. Bei seiner Abschiedsvorstellung 2021 gelang es auch Kroos nicht mehr, das ermüdete Löw-Team aufzuwecken. Kroos ist Weltmeister, seine Europameisterschaften aber verliefen bisher eher unglücklich. Eine Mannschaft mit Kroos aber kann kaum auf Dauer erfolglos sein.
Mittlerweile hat er sich Betätigungen gesucht, die nicht gar so 90er-Jahre deutsch erscheinen, wie seine Leidenschaft für die sehr beliebte und ein wenig beliebige deutsche Pop-Formation Pur. Mit der Toni-Kroos-Academy hat er eine Fußballschule gegründet, die Tages- und Wochenkurse anbietet. Bereits 2015 gründete er eine Stiftung, die sich für schwerkranke Kinder engagiert. Seit kurzer Zeit ist er Initiator einer eigenen Liga. Ab dem September soll in der sogenannten Icon-League in der Halle gekickt werden. Mit-Gründer ist der Streamer Elias Nerlich (den Älteren bekannt als einer der Gründe, warum die Jüngeren hinter Bildschirmen verschwinden). Mitwirken werden wohl unter anderem auch Franck Ribéry und David Alaba. Wahrscheinlich nicht auf dem Feld, sondern als Zugpferd am Rande davon. Ein Versuchsballon. Kalkulierbares Risiko. Dass ikonische Bilder geliefert werden, ist unwahrscheinlich.
Dafür ist Kroos selbst auch nicht auf dem Feld bekannt. Das sollen die Ronaldos und Viniciusse machen. Die strahlenden Helden. Galaktische. Kroos ist einer von ihnen. Und doch auch ganz Mensch. Darf natürlich in keiner Geschichte über Kroos fehlen, dass er nach dem Champions-League-Triumph 2022 ZDF-Reporter Nils Kaben recht deutlich darauf hinwies, dass er mit der Fragestellung nicht vollumfänglich einverstanden war: „Also du hattest 90 Minuten Zeit, dir vernünftige Fragen zu überlegen, ehrlich. Und dann stellst du mir so zwei Scheiß-Fragen.“ Ähnlich einzukategorisieren sind mittlerweile Fragen über die fußballerischen Qualitäten von Toni Kroos. Er ist erhaben. Auf dem Spielfeld – und über alle Zweifel.