Thorsten Fink hat die Szene auch heute, nach 24 Jahren, immer noch genau vor Augen. Ein Maiabend im Jahr 1999, es läuft die Nachspielzeit und der FC Bayern verschanzt sich in der eigenen Hälfte. Das Ziel: Die knappe 1:0-Führung irgendwie über die Zeit bringen. Dann kommt der Ball zu Fink, im Strafraum. "Ich muss ihn wegschlagen, aber ich treffe ihn nicht richtig, nur mit der Fußspitze. Er fliegt nur bis zur Strafraumgrenze. Irgendeiner von Manchester prügelt ihn nochmal rein, und Sheringham trifft zum Ausgleich."
Das könnte auch die detaillierte Schilderung eines Tors in der Kreisliga sein. Ärgerlich wäre so etwas auch da gewesen. Es geht aber um das Finale der Champions League gegen Manchester United. Es ist das größte Spiel des Kontinents. Und die Bayern werden es auf die denkbar grausamste Weise verlieren.
Innerhalb von 102 Sekunden fallen die Bayern vom Himmel in die Hölle
Das Spiel in der Kurzfassung: Der FC Bayern dominiert das Geschehen im Camp Nou in Barcelona von Beginn an, geht durch einen Freistoß von Mario Basler schon nach sechs Minuten in Führung. Das Team von Ottmar Hitzfeld hätte eigentlich höher als nur mit 1:0 führen müssen: Mehmet Scholl traf den Pfosten, Carsten Jancker die Latte. Dennoch sah alles nach dem ersten Titel der Münchner in dem Wettbewerb nach 23 Jahren aus, auf der Bank wurden schon T-Shirts und Kappen mit Siegerslogans verteilt. Lothar Matthäus ließ sich nach 80 Minuten auswechseln, für ihn kam Fink. Und dann kam die Nachspielzeit.
Und Fink brachte diesen verflixten Ball eben nicht weg. Dafür war Teddy Sheringham zur Stelle. Als jeder mit einer Verlängerung rechnete, traf mit Ole Gunnar Solskjaer der zweite Einwechselspieler zum 2:1 und die Bayern damit in Mark und Bein. Innerhalb von 102 Sekunden waren die Bayern vom Himmel in die Hölle gestürzt, bis heute gilt das Spiel als Mutter aller Niederlagen. Franz Beckenbauer war damals zusammen mit Uefa-Präsident Lennart Johansson und Bayerns Edelfan Boris Becker von der Tribüne aus mit dem Aufzug gefahren, um den Bayern zum Sieg zu gratulieren. Während der Fahrt geschah das Unglaubliche. Als die drei am Spielfeld ankamen, lag die Bayern-Welt in Trümmern. Sammy Kuffour und Carsten Jancker lagen weinend auf dem Rasen.
Die Niederlage im Champions League Finale kam für den FC Bayern unerwartet
Für Thorsten Fink, der heute als Trainer arbeitet (u.a. HSV, ab Juli St. Truiden / Belgien) war es der schwärzeste Tag seiner Karriere. Und das Schlimmste: Er hatte einen großen Anteil an der Niederlage. "Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich den Ball nicht weggeschlagen habe." Vorwürfe habe ihm danach keiner seiner Mitspieler gemacht, aber auch so war der Abend schlimm genug: "Ich war einer der erfahrenen Spieler und wollte der Mannschaft helfen nach meiner Einwechslung." Richtig schlimm wurde es bei der Siegerehrung: "Dieses Blitzlichtgewitter, als Manchester den Pott bekommen hat, werde ich nie vergessen. Das tat so weh. Da haben wir gemerkt, was wir gerade verloren haben."
Doch so bitter diese Niederlage war – die Bayern-Mannschaft sollte daran wachsen. "Keiner hat direkt nach dem Spiel gesagt: Jetzt holen wir uns das Ding halt nächstes Jahr", so Fink. In der Nacht fielen die Verlierer erst mal übereinander her. Scholl schimpft auf Matthäus wegen dessen Auswechslung kurz vor Schluss: "Immer, wenn es eng wird, verpisst der sich" Routinier Thomas Helmer, der den Abend nur auf der Bank verbrachte, streckte Trainer Hitzfeld den Mittelfinger entgegen.
2001 gewann der FC Bayern nach 25 Jahren die Champions League
Fink selbst ging früh ins Bett, während andere Spieler wie Scholl, Basler, Babbel und Effenberg die Nacht durchzechten. "Hier gilt der Spruch: Schwache Zeiten schaffen starke Menschen", so Fink. "Und wir haben es als Team geschafft, diesen Rückschlag in einen Hunger nach Erfolg umzuwandeln. Und dann ist es ja so: Wenn man zusammen durch Dick und Dünn geht, schweißt das zusammen." Er wollte zeigen, dass er der Mannschaft noch etwas geben kann: "Ich bin im Ruhrpott aufgewachsen und habe gelernt, zu kämpfen."
Im nächsten Jahr scheiterten die Bayern knapp im Halbfinale an Real Madrid, 2001 gelang der alternden Mannschaft doch noch die Krönung: Im Finale gegen den FC Valencia holte der FC Bayern im Elfmeterschießen den Pokal, nach 25 Jahren des Wartens. Fink kam in dem Endspiel nicht mehr zum Einsatz, in den Spielen zuvor hatte er sich verletzt und stand nicht mehr im Kader. "Damals ging der Stern von Owen Hargreaves auf. Zuvor hatte ich noch ein gutes Jahr. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen." Zum Ende des Jahres gewannen die Bayern sogar den Weltpokal, in Tokio gegen die Boca Juniors. Ein Jahr durfte sich der FC Bayern offiziell als beste Mannschaft des Planeten bezeichnen.
Thorsten Fink spielte bis 2003 in der ersten Mannschaft des FC Bayern
Aber zurecht? War die Niederlage gegen Manchester der Beginn der Erfolgsära, läutete der Sieg in Japan ihr Ende ein. "Nach diesem Spiel fiel alles so ein bisschen ab, die Luft war raus", erinnert sich Fink. Er selbst war noch bis 2003 Teil der Bundesligamannschaft, ließ danach seine Karriere bei der zweiten Mannschaft ausklingen. Mit dem Sieg in der Königsklasse hatten die Bayern lange nichts mehr zu tun, erst 2010 stand wieder ein Team der Münchner im Endspiel des Wettbewerbs.
Unsere Serie "Reden wir übers Verlieren"
Schmerzhafte Niederlagen gehören zum Sport dazu. In unserer Serie zeigen wir, wie sie prägen, welche Folgen aus ihnen resultieren. Wir lassen Experten und Sportler zu Wort kommen, die uns verraten, wie sie mit Rückschlägen umgegangen sind und welche Niederlage am meisten geschmerzt hat.