Tatort Kaseya-Center, Miami. Rund 90 Minuten vor Beginn der Partie zwischen den Miami Heat und San Antonio Spurs in der amerikanischen Basketball-Profiliga NBA betreten plötzlich vier äußerst muskulöse und finster dreinblickende Gestalten den Innenraum der riesigen Arena. Alle mit einem Knopf im Ohr sowie dem Emblem der San Antonio Spurs auf der Brust. Sie positionieren sich auf jener Seite des Spielfeldes, auf der sich die Profis der Gäste gerade aufwärmen. Rund 60 Sekunden später wird klar, wem dieser aberwitzig erscheinende Geleitschutz gilt: Nicht etwa – wie man durchaus vermuten könnte – dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sondern vielmehr einem 2,24 Meter großen jungen Mann, dessen rund 100 Kilogramm Körpergewicht angesichts der ungleichen Proportionen nahezu verloren wirken.
Sein Name: Victor Wembanyama. Ein 20-jähriger Franzose, der die Basketball- beziehungsweise NBA-Welt (was für den amerikanischen Betrachter das Gleiche ist) bereits seit Monaten in Atem hält und diese – laut Superstar LeBron James von den Los Angeles Lakers – in den nächsten Jahren "nachhaltig verändern wird".
Victor Wembanyama: Jedes NBA-Team hätte gerne das Wunderkind gehabt
Doch was ist es genau, das die Anhänger wie in Miami regelrecht in Ekstase versetzt, sobald der Sohn eines aus dem Kongo stammenden Vaters sowie einer französischen Mutter die Hallenböden in Nordamerika betritt? Oder warum einige NBA-Teams ihre vergangene Saison sportlich schon frühzeitig bewusst "abschenkten", um beim Draft im Jahr 2023 (hier erwerben die 30 NBA-Organisationen die Rechte an Nachwuchsspielern aus der ganzen Welt, die von ihren Agenten zum Draft angemeldet werden) ihre Chancen auf das neue Basketball-"Wunderkind" zu erhöhen?
Miamis Trainer-Legende Erik Spoelstra, der seit 2008 beim dreifachen NBA-Champion unzählige Stars wie LeBron James, Dwyane Wade, Chris Bosh oder Jimmy Butler unter seinen Fittichen hatte, bringt es dabei auf den Punkt. "Ich habe bislang noch nichts annähernd Vergleichbares in dieser Liga gesehen", sagt Spoelstra – und lässt damit erahnen, was in den kommenden Jahren auf die NBA zukommen wird. Ein Riese mit Schuhgröße 55 und einer Armspannweite von 2,43 Metern, der auf dem Feld – und das ist das eigentlich Verblüffende – gar nicht als solcher agiert. Während im Basketball gemeinhin die richtig groß gewachsenen Akteure als sogenannte Center direkt unter den Körben ihre (körperlichen) Akzente und Duftmarken setzen, vereint Wembanyama sämtliche Komponenten eines kompletten Basketballers. Er kann dribbeln wie ein Aufbau- und werfen wie ein Flügelspieler oder sich aufgrund seiner Größe in der gegnerischen Zone entsprechend durchsetzen. Darüber hinaus sind seine langen Arme in der Verteidigung für jeden Kontrahenten eine ernsthafte Bedrohung.
"Die Umstellung vom europäischen zum NBA-Basketball war und ist sicherlich nicht ganz einfach. Vor allem die vielen Begegnungen innerhalb kurzer Zeit sind für mich aufgrund der hohen Belastung nach wie vor gewöhnungsbedürftig", berichtet Wemby, dem der ganze Trubel um seine Person fast schon unangenehm ist. "Natürlich ist es cool, wenn die Leute deinen Namen rufen oder dein Trikot tragen. Aber ich stehe noch ganz am Anfang meiner Karriere und habe ja noch überhaupt nichts geleistet", sagt der Schlaks fast schon entschuldigend.
Den Fans in Nordamerika ist dies anscheinend egal. Sie sehnen sich nach Stars und wollen auch deshalb ein Teil dieses "Wembanyama-Märchens" sein. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich sein Spurs-Trikot mit der Nummer 1 längst zum absoluten Verkaufsschlager entwickelt hat. Unter allen NBA-Jerseys ging jenes von Victor Wembanyama nach denen von Stephan Curry (Golden State), Jayson Tatum (Boston) und LeBron James (Los Angeles Lakers) bis zum 31. Januar 2024 am viertmeisten über die Ladentheke – noch vor Giannis Antetokounmpo (Milwaukee), Luka Doncic (Dallas) oder Kevin Durant (Phoenix). Den Vogel schoss dabei ein Fan aus San Antonio ab. Bei einer Auktion erwarb er das Originaltrikot des jungen Franzosen von dessen erstem NBA-Match gegen die Dallas Mavericks für schlappe 762.000 US-Dollar!
Victor Wembanyama ist erstaunlich gelassen
"Es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Gelassenheit dieser Junge mit diesem unglaublichen Hype um seine Person umgeht", sagt Jeff McDonald. Der langjährige Reporter der San Antonio Express News begleitet die Spurs und Wembanyama, der vor seinem Abflug in die USA auch noch beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum Kaffeetrinken eingeladen war, in dieser Saison auf Schritt und Tritt. "Victor hat das große Glück, mit Gregg Popovich den erfahrensten NBA-Trainer an seiner Seite zu haben. Einen besseren Lehrmeister gibt es nicht", so McDonald weiter. In der Vergangenheit hatte der mittlerweile 75-jährige Popovich, der mit den San Antonio Spurs insgesamt fünf Meisterschaften gewann, bereits aus Akteuren wie David Robinson, Tim Duncan, Manu Ginobili, Tony Parker oder Kawhi Leonard absolute Superstars geformt.
Sein neuestes und – im wahrsten Sinne des Wortes – wohl auch größtes Projekt heißt nun Victor Wembanyama. Angesprochen auf seinen Schützling gerät Popovich, der ansonsten für seine eher zurückhaltenden Äußerungen bekannt ist, regelrecht ins Schwärmen. "Was soll ich über ihn sagen? Victor versteht alles, kann alles sofort umsetzen und entwickelt sich rasend schnell. Für einen jungen Spieler, der zuvor nicht auf dem College war, ist das mehr als beeindruckend."
Die Zukunft trägt Wembanyamas Namen
Bereits in seinem fünften NBA-Match gegen die Phoenix Suns (132:121) steuerte Wembanyama sagenhafte 38 Punkte bei. Und auch Miamis Superstar Kevin Love machte beim 116:104-Sieg seiner Heat gegen die San Antonio Spurs durchaus die eine oder andere unliebsame Bekanntschaft mit den französischen Krakenarmen. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Junge in einigen Jahren das Spiel nicht nur verändern, sondern die Liga komplett dominieren wird. Glücklicherweise werde ich ihm dann wohl nicht mehr auf dem Court gegenüberstehen", meint Love und ergänzt: "Die neue Basketball-Zukunft hat begonnen – und sie trägt den Namen Victor Wembanyama."