Der Rücktritt von Steffi Graf lag schon fast zehn Jahre zurück, als in der Tenniswelt auf einmal von einem neuen deutschen Fräuleinwunder die Rede war. Es ging allerdings spät in den Nullerjahren nicht um Angelique Kerber, Julia Görges, Tatjana Maria oder Sabine Lisicki. Sondern zuerst um Andrea Petkovic, eine freche, unbeschwerte Teenagerin aus Darmstadt, die begann, sich mit erfrischender Dynamik in der erweiterten Weltspitze zu etablieren. Petkovic war extrem ehrgeizig, sie wollte sehr früh sehr hoch hinaus. Dann aber kamen Verletzungen, viele Verletzungen. Die Mitstreiterinnen aus dem Nationalteam zogen an Petkovic vorbei, die „Ollen“, wie Petkovic sie nannte.
Kerber, die von Petkovic einst sogar vor einem Rücktritt bewahrt worden war, gewann die großen Titel, wurde die Nummer eins. Aber Petkovic war auch in dieser Situation eine außergewöhnliche Erscheinung. „Wenn die anderen besser sind als ich“, sagte sie, „dann ist das kein Problem für mich, das sehe ich komplett entspannt. Das sind meine Freundinnen, denen wünsche ich nur das Schönste und Beste“. Wenn man Neid so definiere, dass man anderen etwas nicht gönne, so Petkovic, „dann ist dieses Gefühl bei mir definitiv nicht vorhanden.“
Görges hat 2021 aufgehört, Kerber erwartet ein Kind – und jetzt sagt Petkovic adé
Im Moment sind sie gefühlt alle wieder dicht beisammen, die Spielerinnen aus der goldenen Generation des deutschen Frauentennis. Görges, Kerber, Petkovic. Görges hatte sich im letzten Herbst vom Tennis verabschiedet, Petkovic schrieb ihr damals öffentlich, sie werde sie „so sehr vermissen“. Vor ein paar Tagen verkündete Kerber, dass sie ihr erstes Kind erwartet und nicht an den US Open teilnehmen werde. Ob sie jemals auf den Tennisplatz zurückkehren wird, ist offen.
Und nun auch Petkovic - mit dem „letzten Tanz“, den sie bereits auf Instagram ankündigte, bevor sie nun auch in New York sagte: „Die US Open sind generell mein letztes Turnier.“ Vielleicht werde sie noch einen Wettbewerb in Europa dranhängen, als Schaulaufen mit Freunden, Familie und Fans aus der Heimat. Am Dienstag könnte sie gegen die Schweizer Olympiasiegerin Belinda Bencic tatsächlich schon ihr letztes Grand-Slam-Match bestreiten.
Eine abenteuerliche Reise geht damit für die inzwischen 34-jährige Südhessin zu Ende, eine Tennisreise über fast zwei Dekaden, in der sie alle Höhen und Tiefen durchmessen und selbst stets messerscharf analysiert hat. Warum sie nicht in den ersten Jahren ihrer Karriere die großen Erfolge gefeiert hatte, wusste sie später auch ziemlich genau: „Ich hatte damals eine wahnsinnig komplizierte Zeit, es war halt immer ein großer Überwillen in mir drin, der auch zu Verletzungen führte“, so Petkovic, „da bin ich total vom Weg abgekommen, habe auf niemanden mehr gehört, habe den Erfolg über alles gestellt.“ Der Mensch Petkovic, so Petkovic, sei egal gewesen, es sei fatalerweise nur noch um die Tennisspielerin Petkovic gegangen. Zu früh sei der Erfolg gekommen.
Tennis für Andrea Petkovic teilweise nur Teilzeitjob
Vielleicht waren diese belastenden Erfahrungen auch immer einer der Gründe, warum Petkovic sich fortan anderen Interessen und Themen widmete und Tennis gelegentlich sogar als Teilzeitjob betrachtete. Sie studierte nebenher Politikwissenschaften, ging für ein Praktikum in die Wiesbadener Staatskanzlei von Ex-Ministerpräsident Roland Koch. Sie schrieb Kolumnen für verschiedene Zeitungen, ging später mit Rockbands auf Tour. Sie schlitterte aus den Top 100 heraus, flüchtete hin und wieder vollständig aus dem Tenniscircuit. Bevor sie spät in ihren Zwanzigern die Erkenntnis fand: „Mein Leben hat viele Facetten, ich selbst habe viele Gesichter. Aber ich bin zuallererst Tennisspielerin. Und ich versuche, stets das Beste zu geben, und habe großen Spaß daran.“
Für manche professionelle Beobachter des Wanderzirkus war es fast schon erstaunlich, dass Petkovic sehr spät noch einmal aufdrehte als Athletin, im letzten Jahr sogar noch einmal ein Turnier in Rumänien gewann – zu sehr war sie in ihren vielen anderen Neben-Rollen wahrgenommen worden, nicht zuletzt als Moderatorin der ZDF-„Sportreportage“ oder als Autorin einer Autobiografie mit dem Titel „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht.“
Einer der größten späten Tage für Petkovic spielte sich bei den French Open 2019 ab, auf Court 14 gegen die Taiwanesin Hsieh, ein Zweitrundenthriller mit Happy-End für die Darmstädterin. Petkovic spürte die Magie und Besonderheit des Moments, weit abseits irgendwelcher Titelambitionen: „Heute dachte ich endlich wieder: Mann, was hast du für einen coolen Job. Ich weiß, dass es schwer wird, solche Momente zu ersetzen. Man darf aber auch gar nicht darauf hoffen.“
Petkovic auf der Zielgeraden ihrer Karriere: "Ich habe Frieden mit meinem Ego gemacht"
Auch wenn sportlich nicht alles nach Wunsch lief, sah Petkovic die Erlebnisse auf der Zielgerade ihrer Karriere als „großes Glück.“ Jenseits der 30, das sei die beste Zeit für sie, sie sei so „zufrieden wie nie zuvor.“ Sie war nicht mehr die Getriebene, die Gehetzte. Nicht mehr eine, die sich selbst oder anderen etwas beweisen wollte. „Es gibt“, stellte Petkovic fest, „keine Hintergedanken, keine Nebengeräusche mehr.“
Als sie in New York im Herbst vor drei Jahren die zweimalige Wimbledongewinnerin Petra Kvitova schlug, sprach sie anschließend von „innerer Harmonie und Balance“, die sie nach langer Suche gefunden habe. Ausgeklinkt aus der ewigen Stressnummer erschien sie, ohne allerdings Ansprüche zu verlieren. „Ich habe Frieden mit meinem Ego gemacht. Niederlagen sind nicht der Weltuntergang. Und nach Siegen fühle ich auch nicht gerade, dass ich Roger Federer bin.“
Petkovic war schon früh immer viel mehr als nur eine Tennisspielerin, auch wenn ihr die Rolle der Welterklärerin spät besser passte als mit Anfang 20. Sie blickte stets über den Centre Court hinaus, stieß wichtige Debatten in ihrem Sport an. Zuletzt war sie auch als Mentorin für jüngere Spielerinnen wie etwa die Dortmunderin Jule Niemeier unterwegs. Um beispielsweise zu erklären, sich in frühen Jahren nicht durch übersteigerte Erwartungen vieles kaputtzumachen: „Das Wahnsinnige ist ja: Du weißt als Greenhorn gar nicht, wie viel Zeit du hast, um deine Ziele zu erreichen.“