Herr Kroos, Sie stehen vor Ihrer dritten Fußball-Weltmeisterschaft als Spieler. Wie bewerten Sie die Chancen der deutschen Mannschaft in Russland?
Toni Kroos: Ich sehe bei uns eine gute Mischung. Ob wir dieses Gefühl entwickeln können wie 2014, dieses Gefühl, ganz, ganz schwer zu schlagen zu sein, dieses Gefühl, immer die Möglichkeit zu haben, ein Tor zu machen, das wird man während des Turniers sehen. Das muss sich entwickeln.
Das Gerüst der Mannschaft ist ähnlich wie beim Titelgewinn 2014.
Kroos: Ähnlich, ja. Schweinsteiger, Lahm und Klose waren natürlich auch Eckpfeiler, ohne Frage. Ich denke, dass wir qualitativ auf Augenhöhe sind mit dem Team 2014, vielleicht sogar besser. Wir müssen nur außerhalb und innerhalb des Platzes zu einer Einheit werden. Wir müssen zusammen verteidigen, unangenehm sein für den Gegner. Er muss das Gefühl bekommen: ,Deutschland ist schwer zu bespielen.’ Da haben wir noch Luft nach oben. Mit Ball sind wir fast sogar stärker als 2014. Wenn wir das ohne Ball auch hinbekommen, dann werden wir gute Chancen haben in Russland.
Was können Sie als Führungsspieler dazu beitragen, dass dieses Gefühl wieder aufkommt?
Kroos: Ich werde alles dafür tun. Aber wir brauchen elf Spieler auf dem Platz mit einer klaren Idee, und wir müssen mit Hingabe verteidigen. 2014 haben wir bei der WM kaum Gegentore bekommen, das war kein Zufall. In letzter Zeit haben wir deutlich mehr Gegentore bekommen, und auch das war kein Zufall. Dieses Gefühl für den Gegner, auf dem Platz unangenehm zu sein, das müssen wir trainieren und jeder muss es für sich entwickeln. Wenn es bei dem einen oder anderen nicht so ist, dann muss man klar drauf hinweisen. Wir müssen alle alles dem Ziel unterordnen.
Sie spielen auf Ihre Kritik nach dem verlorenen Spiel gegen Brasilien im Frühjahr an. Vor allem die aufstrebenden Kräfte trafen Ihre Kritik. Hat sich etwas bewegt seitdem?
Kroos: Ich finde, dass wir gut trainieren, aber ich bin auch erst seit drei, vier Tagen hier. Es war damals mein Gefühl, das ich auf dem Platz hatte: Es kommt zu wenig von einigen. Das war nicht persönlich gemeint. Aber in einem Spiel gegen Brasilien vor 80 000 Zuschauern sollte eigentlich jeder alles geben. Jeder kann die Kritik annehmen, wie er möchte. Wenn einer sagt, das sei nicht so gewesen, dann ist es ja gut. Es war nur mein Empfinden, dazu stehe ich - und wenn es wieder vorkommt, würde ich es wieder sagen. Mir wäre auch lieber, wenn ich sagen könnte: alles überragend!
Vor einem Jahr gab es nach dem Gewinn des Confed-Cups fast einen Hype. Die große Breite an Talenten wurde gelobt. Aktuell sieht es so aus, als müssten es die Weltmeister wieder richten.
Kroos: Klar brauchst du ein Gerüst mit Turniererfahrung. Im Vergleich zu den Mannschaften, die im vergangenen Jahr etwas gewonnen haben, bringt das einen deutlichen Schuss an Qualität dazu. Denn eine Weltmeisterschaft zu gewinnen, ist etwas anderes als eine U-21-EM. Aber natürlich helfen uns die Spieler, die da auf sich aufmerksam gemacht haben. Jeder, der Qualität und Mentalität reinbringt, ist immer willkommen.
Joachim Löw sagte unlängst über Sie, Sie würden immer in Ihrer Mitte ruhen und ein Vorrundenspiel genauso angehen wie ein Finale. Besitzt man diese Fähigkeit oder muss man sie lernen?
Kroos: Teils, teils. Es stimmt, von meinem Charakter her bin ich etwas ruhiger und entspannter. Die Erfolge, die ich errungen habe, haben mir auch ein bisschen Gelassenheit gegeben. Ich bin von meinen Qualitäten überzeugt und weiß, dass ich sie, egal in welchem Spiel, zeigen kann. Das gibt mir Ruhe. Und zusätzlich sage ich mir auch: Es ist nur Fußball.
Wie bewerten Sie die Titel-Konkurrenten in der WM?
Kroos: Fast alle Topnationen sind deutlich besser als 2014. Frankreich ist besser. Brasilien ist zwei Klassen besser. Spanien ist besser. Aber das interessiert mich gar nicht. Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir mit Demut an die WM-Aufgabe rangehen sollten. Es ist keine Frage, dass wir mit einer Topmannschaft hinfahren und qualitativ mit allen mithalten können. Aber in meinen Augen haben die letzten Monate eben auch gezeigt, dass wir uns erst mal den Aufgaben in der Gruppe widmen sollten. Wir haben ein schweres Auftaktspiel gegen Mexiko. Wenn wir die Gruppe überstanden haben und irgendwann gegen eine der Topmannschaften spielen, dann können wir uns auch darüber unterhalten, wie gut sie sind.
Ist Ihr Energiespeicher eigentlich nach der anstrengenden Saison mit Real Madrid noch voll?
Kroos: Da braucht man schon ein paar Tage, das gebe ich zu. Du beendest eine Saison von Vereinsseite mit einem Riesenerfolg, da ist es doch normal, dass erst mal ein bisschen was abfällt. Und nach ein paar Tagen geht es dann schon wieder los. Aber das kriege ich schon hin.
Sie sind ja Spezialist für Titelverteidigungen, haben mit Real Madrid jetzt dreimal in Folge die Champions League gewonnen. Ist die Titelverteidigung in der WM für Sie ein persönlicher Antrieb?
Kroos: Eine Weltmeisterschaft ist eine hohe Motivation, sonst würde ich nicht mehr spielen. Das ist und bleibt etwas Besonderes, und natürlich weiß ich, dass noch nie eine deutsche Mannschaft den WM-Titel verteidigt hat.
Noch mal zurück zum Champions-League-Finale. Wie bewerten Sie den harten Einsatz Ihres Teamkollegen Sergio Ramos gegen Liverpools Mohammed Salah?
Kroos: Ich bin komplett davon weg, dass da eine Verletzungsabsicht im Spiel war. Es wurde ja nicht mal Foul gepfiffen, was man wohl hätte tun können. Dass Ramos im Zweikampf nicht zimperlich ist, ist klar. Aber wir sind uns auch alle einig, dass man mit genau solch einem Auftritt große Titel gewinnt. Das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt. Ich bin froh, dass er unser Kapitän ist, und ich habe nichts Unsportliches gesehen.
Weg vom Fußball: Auf Ihrem linken Arm sind sehr viele Tattoos zu sehen.
Kroos: (lacht) Das muss man ja so machen heutzutage als Fußballer.
Wir hätten das bei Ihnen eher nicht vermutet. Kommt da noch der WM-Pokal drauf, wenn Sie den Titel in Russland gewinnen sollten?
Kroos: Nein, da kommt nichts Sportliches drauf, sondern nur etwas Familiäres oder Tiefgründiges. Sportliche Erfolge sind kein Grund, um sie auf dem Körper zu tragen.
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