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Sportgeschichte: Wie der Fußball ganze Nationen bewegt

Sportgeschichte

Wie der Fußball ganze Nationen bewegt

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    Schwarz-rot-gold: Das war das vorherrschende Bild auf den Straßen während der WM 2006. Der Fußball kann ganze Nationen bewegen, das verrät ein Blick in die Geschichte. (Archiv)
    Schwarz-rot-gold: Das war das vorherrschende Bild auf den Straßen während der WM 2006. Der Fußball kann ganze Nationen bewegen, das verrät ein Blick in die Geschichte. (Archiv) Foto: Bernd Weißbrod, dpa

    Mit dem Fußball werden Tore gemacht. Aber auch Politik. Nicht erst, seit sich Deutschland bei der Weltmeisterschaft 2006 in ein schwarz-rot-goldenes „Sommermärchen“ verwandelte und China Unsummen investiert, um das Land zu einer erfolgreichen

    Die Rolle des Fußballs bei der Bildung von Nationen

    Untrügliches Zeichen dafür ist auch, dass sich immer mehr Wissenschaftler unter historischen, soziokulturellen und politischen Aspekten mit dem Fußball beschäftigen. Zum Kristallisationspunkt dieser Bemühungen sind die sporthistorischen Tagungen der Schwabenakademie im Kloster Irsee (Ostallgäu) mit Unterstützung der Kulturstiftung des Deutschen Fußball-Bundes geworden. Zum neunten Mal trafen sich Experten aus ganz Europa, um diesmal zu erörtern, welche Rolle der Fußball bei der Bildung oder auch Auflösung von Nationen haben kann.

    Egal, ob Kreisklassen-Kick oder Weltmeisterschaft, kaum einer kann sich der emotionalen Kraft entziehen, wenn „unsere Jungs“ auf dem Feld sind und gegen die „anderen“ um Tore, um den Sieg kämpfen. Dass dieser ungebrochen kraftvolle (Neben-)Effekt des Fußballspiels von Anfang an sowohl von politischen Kräften als auch von den Protagonisten des Sports genutzt wurde und wird, darin waren sich nahezu alle Referenten einig. Über Ausmaß und Effekte wurde aber kontrovers und durchweg anregend diskutiert.

    Geschichte des Fußballs: WM-Titel 1954 als Geburtsstunde Deutschlands

    In vielerlei Hinsicht exemplarisch sind in diesem Zusammenhang die Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland. Während es mit dem WM-Titel 1954 in Westdeutschland endgültig hieß „Wir sind wieder wer“ und dieses „Wunder von Bern“ vielfach als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik angesehen wird, hat die DDR zeit ihres Bestehens ein schwieriges Verhältnis zu ihrer „ungeliebten Nationalmannschaft“ gehabt – nicht nur wegen der fehlenden sportlichen Erfolge, wie Christian Becker (Münster) darlegte.

    Selbst der Sieg der DDR-Auswahl gegen das klar favorisierte DFB-Team bei der WM 1974 in der Bundesrepublik wurde von der Staatsführung kaum propagandistisch genutzt. Dies hat laut Johannes Schütz (Dresden) auch am damals immer noch diffusen nationalen Selbstverständnis der DDR gelegen. Doch auch in der Bundesrepublik habe es zu dieser Zeit eine Tendenz zur „Denationalisierung“ gegeben, was sich im wenig pathetischen Umgang mit den Erfolgen der DFB-Auswahl oder auch an den Nationalhymnen-Verweigerern im westdeutschen Team gezeigt habe.

    Warum die Weltmeisterschaft 2016 einen Gegensatz darstellt

    Im krassen Gegensatz dazu stand laut Sven Ismer (Marburg) die Heim-WM 2006. Erklärtes Ziel der Veranstaltung sei es gewesen, das Image Deutschlands zu verbessern, der Welt ein ausgelassenes „Sommermärchen“ zu präsentieren, gleichzeitig aber auch die Vorzüge und die Tugenden der Gastgeber herauszustellen. Dies sei von Medien und Fans bereitwillig mitgetragen worden und habe zu einer „Rehabilitation des Patriotismus in diesem Land“ geführt.

    Dieser fortgeschrittenen Form der Nationenbildung im wiedervereinigten Deutschland konnte Ismer jedoch auch einen positiven Aspekt abgewinnen: Das neue nationale Bewusstsein wird von einer Mannschaft getragen, deren Spieler zu einem großen Teil ihre Wurzeln nicht in Deutschland haben.

    Sport und Nationenbildung: Zlatan Ibrahimovic als Werbeträger

    Diesen Ansatz führte Andreas Ravn Sorensen (Kopenhagen) am Beispiel des schwedischen Nationalspielers Zlatan Ibrahimovic weiter. Der Fußballstar, Sohn von Einwanderern aus dem Balkan und aufgewachsen in einem Problemviertel in Malmö, wird in einer Werbekampagne des Autobauers Volvo als Vertreter eines neuen Schweden gefeiert.

    Im Gegensatz dazu stehen eindeutig nationalistische Abgrenzungstendenzen in ganz verschiedenen Ausprägungen und Intensitäten, die zahlreiche weitere Referenten in verschiedenen Regionen und Epochen des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht haben. Etwa das fundamentale und bisweilen schon religiös aufgeladene Bekenntnis des FC Barcelona zu Katalonien, seiner Sprache und seiner angestrebten Unabhängigkeit, das explizit gegen den spanischen Nationalstaat gerichtet ist. Beklemmend fiel die Analyse von Dario Brentin (Graz) aus. Er beleuchtete die Rolle des Fußballs beim Zerfall von Jugoslawien, wo nationalistische Ausschreitungen in den Stadien 1990 direkt in den Bürgerkrieg mündeten. Nicht minder erschreckend die Analyse von Manfred Zeller (Bremen), der die rechtsradikalen Umtriebe der ukrainischen Fußballfan-Szene in den sozialen Netzwerken im Zusammenhang mit den Protesten auf dem Kiewer Maidan-Platz 2013/2014 unter die Lupe nahm.

    Angesichts solcher Auswüchse war das – bewusst provokant formulierte – Plädoyer des Sportphilosophen Sven Güldenpfennig geschickt platziert. Er forderte, den (Fußball-)Sport als gleichberechtigt mit klassischen Künsten zu sehen und vollständig von politischer oder gesellschaftlicher Vereinnahmung frei zu halten. So könne durchaus auch über die Abschaffung der Nationalmannschaften nachgedacht werden. Denn: „Bei den Berliner Philharmonikern fragt auch keiner, woher die Musiker stammen.“ Etwas pragmatischer war da Sven Ismers Resümee: „Fußball trägt gesellschaftliche Verantwortung, und die Akteure sollten sich dessen bewusst sein.“

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