Stressresistenz. Was für ein Wort. Der Duden bezeichnet Stress als eine „starke körperliche und seelische Belastung“, Resistenz bedeutet „Widerstandsfähigkeit“. Für Sportler ist es von Vorteil, wenn sie stressresistent sind. Beim Skispringen gilt das vor allem für den mentalen Bereich. Gewonnen wird im Kopf, hat Anders Jacobsen nach seinem Sieg in Garmisch-Partenkirchen gesagt. Das weiß auch Bundestrainer Werner Schuster. Und so blieb ihm nach den ersten beiden Springen der Vierschanzentournee nur, seiner Mannschaft die nötige Stressresistenz abzusprechen.
Skispringen: In den Top Ten steht kein deutscher Sportler
Der redegewandte Österreicher aus dem Kleinwalsertal verdeutlichte seine Diagnose mit einem treffenden Bild. Für das gewöhnliche Weltcupspringen vor ein paar Rentieren im finnischen Kuusamo reiche die Stressresistenz seiner Sportler, um Spitzenresultate zu schaffen. Wenn sie aber bei der Tournee vor 20000 Zuschauern im Stadion und Millionen vor den Fernsehgeräten auf die Schanze steigen, ist all das im Angesicht des Rentiers erarbeitete Selbstvertrauen dahin. Was das bedeutet, lässt sich im Tournee-Zwischenergebnis ablesen. In den Top Ten steht kein deutscher Sportler. Severin Freund ist Zwölfter, Richard Freitag 13. Im Windschatten der beiden Vorspringer überraschen immerhin Marinus Kraus als 15. und Stephan Leyhe auf Platz 17.
Dennoch ist das eine bittere Zwischenbilanz, die Schuster nicht schönreden wollte. Ernüchternd sei das, sagte er offen. Umso mehr, als er vor der Saison endlich das Gefühl gehabt habe, seine Topleute Severin Freund und Richard Freitag seien bereit für den ganz großen Coup. Der Gesamtsieg bei der Tournee wurde als Ziel ausgegeben. Jetzt sagt Schuster: „Das war eine Fehleinschätzung. Wir sind noch nicht so weit.“ Für die ganz großen Siege sei man (neben der fehlenden Stressresistenz) nicht komplett genug. „Man muss als Gesamtpersönlichkeit weit sein, um hier vom ersten bis zum letzten Tag, zum richtigen Moment die richtigen Sprünge abliefern zu können.“
Severin Freund fremdelt mit der Favoritenrolle
Oberstdorf: Die Duelle der DSV-Springer
Zehn deutsche Skispringer haben sich für den Auftaktwettbewerb der 63. Vierschanzentournee an diesem Sonntag in Oberstdorf qualifiziert. Im ersten Durchgang kommt es zu folgenden K.o.-Duellen mit deutscher Beteiligung.
Lauri Asikainen (Finnland) - Marinus Kraus (Oberaudorf)
Nejc Dezman (Slowenien) - Daniel Wenig (Berchtesgaden)
Markus Eisenbichler (Siegsdorf) - Johann Andre Forfang (Norwegen)
Michael Maksimotschkin (Russland) - Stephan Leyhe (Willingen)
Anssi Koivuranta (Finnland) - Michael Neumayer (Oberstdorf)
Andreas Wank (Hinterzarten) - Daika Ito (Japan)
Dimitri Wassiljew (Russland) - Severin Freund (Rastbüchl)
Tim Fuchs (Degenfeld) - Anders Fannemel (Norwegen)
Karl Geiger (Oberstdorf) - Rune Velta (Norwegen)
Davide Bresadola (Italien) - Richard Freitag (Aue)
Das ist eine interessante Einschätzung, denn an der Spitze des Gesamttableaus steht mit Stefan Kraft ein 21-jähriger Österreicher, der in Oberstdorf seinen ersten Weltcupsieg schaffte. Auf Platz zwei folgt mit dem Slowenen Peter Prevc ein 22-Jähriger, der in der vergangenen Saison seine ersten drei Weltcupsiege feierte. Und der drittplatzierte Michael Hayböck (23, Österreich) hat noch gar kein Weltcupspringen gewonnen. Es scheint, als sei dieses Trio in seiner Entwicklung weiter als die deutschen Konkurrenten. Von denen ist vor allem Freund, 26, der in seiner Karriere zehn Weltcupspringen gewonnen hat, deutlich erfahrener. Mit der Favoritenrolle kommt er aber nicht zurecht.
Sven Hannawald, der 2002 als bislang letzter Deutscher die Tournee gewann, fand deutliche Worte für die Leistung seines vermeintlichen Nachfolgers. „Severin Freund hat sich selbst in die Siegrolle reingeredet. Wenn dann der Wettkampftag kommt, kommt gerade bei der Tournee eine große Welle auf dich zu, die man nicht so gut beherrschen kann“, sagte er Sky Sport News HD.
Skispringen: Deutsche nicht mehr in Favoritenrolle
Der österreichische Teil des Skisprungklassikers in Innsbruck und Bischofshofen soll nun zur Wiedergutmachung genutzt werden. Der leichte Aufwärtstrend von Garmisch-Partenkirchen, als Freund und Freitag der zweite Sprung glückte, lasse ihn hoffen, sagte Schuster. „Wir haben das Potenzial, aufs Podium zu kommen.“
Es gehe jetzt darum, sich während der Tournee wieder zu fangen, „das ist echt eine Husarenaufgabe“. Dieses Wort kennt der Duden zwar nicht, gemeint war aber vermutlich das Husarenstück. Als ein solches wird ein „waghalsiges, tollkühnes Unternehmen“ bezeichnet. Und genau das ist es, denn noch selten waren Qualität und Ausgeglichenheit in der Spitzengruppe größer. Andere Nationen haben es geschafft, pünktlich zum Saisonhöhepunkt in Topform zu sein. Immerhin: Die Deutschen können jetzt deutlich befreiter auf die Schanze steigen. Den Stress der Favoritenrolle sind sie endgültig los.