Werner Schuster, der sonst eher besonnene Bundestrainer, hatte sich genauso wenig unter Kontrolle wie sein wenige Meter entfernt im Blitzlichtgewitter stehende und mit weit aufgerissenem Mund jubelnde Schützling. Schuster war vom Trainerpodest oben am Schanzentisch zu Fuß fast heruntergeflogen, rannte wie ein Wilder durch die Interviewzone, verbrüderte sich mit TV-Journalisten und begann, seiner Freude dadurch Ausdruck zu verleihen, dass er noch schneller redete als sonst. Als er eine halbe Stunde später von einem Reporter gefragt wurde, ob es sein könne, dass er in den knapp zehn Jahren als Bundestrainer noch nie so gelöst war wie jetzt nach dem Olympiasieg von Andreas Wellinger, gestand und witzelte Schuster zugleich: „Ja, ich steh’ grad unter Drogen.“
Wellinger kann Sieg in Pyeongchang lange nicht fassen
Einen Rausch ganz anderer Art, ebenfalls gelenkt von Adrenalin, erlebte der Hauptdarsteller in diesem fast vierstündigen Drama an der Alpensia-Normalschanze in Pyeongchang. Bereits als feststand, dass er nach einem gewaltigen Satz von 113,5 Metern im zweiten Durchgang eine Medaille sicher in der Tasche hatte, krümmte sich der 1,83 Meter große Wellinger in einer Art, wie man es allerhöchstens von den Sicherheitsvorschriften in einem Flugzeug kennt – vor einer Notlandung. Ausgerechnet der, der gerade eine Landung aus dem Bilderbuch auf den Aufsprunghügel gezaubert hatte und dafür 58,0 von 60 möglichen Punkten erhielt, ging also in die Hocke, legte die Ellbogen auf die Knie, verschlug die Hände über dem Kopf – und vergoss dabei zahlreiche Tränen.
Erst Teamkollege und Freund Markus Eisenbichler riss ihn mit Wucht aus dieser Position des Kleinmachens – nachdem der Halbzeitführende Pole Stefan Hula auf Rang fünf zurückgefallen und der Triumph des Deutschen perfekt war: „Als Außenstehender kann man sich im ersten Moment leichter freuen“, sagte Wellinger hinterher, wollte und konnte aber nicht verraten, was ihm in den Augenblicken des bislang größten Erfolgs durch den Kopf gegangen war: „Gar nichts. Oben denkst du, was du für einen Sprung machen willst, unten denkst du, was für ein geiler Sprung. Und ab dem Moment ist einfach nur system overload.“ Auch bei der Pressekonferenz gut eine Stunde nach dem Wettkampf kämpfte Wellinger mit den Tränen: „Ich könnte grad die ganze Zeit heulen, weil es einfach so geil ist.“
Vermutlich waren es auch die widrigen äußeren Umstände, die Wellinger in dieses emotionale Wechselbad der Gefühle trieben. Starke Böen und eisige Temperaturen sorgten für teilweise chaotische Verhältnisse. Besonders betroffen war Doppel-Olympiasieger Simon Ammann im zweiten Durchgang. Zehn Minuten lang saß der Schweizer um Mitternacht auf dem Startbalken, musste immer wieder zurückrutschen und konnte erst im sechsten Anlauf springen. Seine 104,5 Meter und Rang elf werden in den Geschichtsbüchern des Sports keine Beachtung finden, wohl aber die Tatsache, dass er für einen Sprung zwei Tage benötigte: „So am Limit habe ich noch nie operiert“, nahm es Ammann mit Humor.
Skispringer Andreas Wellinger feiert in Südkorea
Bei den Deutschen war die Windlotterie und das magere Zuschauer-Interesse (am Ende harrten im weiten Rund vielleicht noch gut 500 Fans aus) kaum ein Thema. Nur Schuster fühlte sich ob der leeren Ränge eher an den „Deutschlandpokal“ erinnert. Doch auch er ließ sich die Stimmung dadurch nicht vermiesen. Auch Richard Freitag, der von Platz vier auf Rang neun zurückfiel (hinter Eisenbichler und vor dem Oberstdorfer Karl Geiger) gratulierte artig und versprach: „Auf der Großschanze komme ich hoffentlich besser zurecht.“ Für die weiteren Herausforderungen in Korea sei die Goldmedaille schon mal eine Erleichterung. „Das schafft Ruhe und lässt hoffen auf die nächsten Tage, vor allem auf das Teamspringen“, so Freitag. Werner Schuster sagt seinem Musterschüler eine große Zukunft voraus: „Ich glaube, dass er noch hungrig ist. Er ist 22 und hat noch nicht alles gewonnen.“ Eines Tages wolle Wellinger auch den Gesamtweltcupsieg feiern. Wenn er gesund bleibe und „nicht total den Querlauf hat“, dann bleibe er ja hoffentlich bis zur WM 2021 in Oberstdorf oder darüber hinaus im Rennen. „Wir können noch viel von ihm erwarten“, sagte Schuster und fügte an: „Aber schauen wir mal, was der Erfolg mit ihm macht.“
Derart weit voraus wollte Wellinger da nicht blicken. Nach einem Interview-Marathon dürstete es ihn noch vor der Dopingprobe nach einem Weißbier. Das gab es dann weit nach zwei Uhr morgens im Deutschen Haus, wo die deutsche Sportfamilie ihm und Laura Dahlmeier einen herzlichen Empfang bereitete.
Vor vier Jahren, als Welllinger mit Andreas Wank, Marinus Kraus und Severin Freund Team-Olympiasieger geworden war, mussten die feierwütigen Schuster-Jungen im Österreich-Haus feiern, weil das Deutsche Haus bereits geschlossen hatte. Diese Blöße wollte sich der Deutsche Olympische Sportbund an diesem ersten goldenen Samstag nicht geben. Dem Vernehmen nach soll Wellinger bis fünf Uhr morgens gefeiert und das eine oder andere Weizenbier bestellt haben. Das nächste Springen, die Qualifikation von der Großschanze, findet am kommenden Freitag statt.
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