Exakt 15 Minuten pro Tag stehen Ausländern zur Verfügung, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken. An den Eingängen der Hotels sitzen Wachmänner, die in Listen minutengenau eintragen, welcher Olympia-Berichterstatter wann geht und wiederkommt. Das führt zu skurrilen Situationen. Um eine vorbestellte Pizza abzuholen, bedarf es einer minutiös geplanten Kommandoaktion. Geld abheben und dann noch in den Supermarkt? Kaum zu schaffen. Bei jedem PCR-Test schwingt die Angst mit, er könne positiv sein. Dann wären auch diese kleinen Freiheiten dahin. Und man wäre als Journalist endgültig gefangen in der Blase, die die Olympischen Spiele in Tokio umgibt.
Denn für den Blick auf das Spektakel mit den fünf Ringen gibt es zwei Perspektiven. Die von außen und die von innen. Zwei Welten, streng voneinander getrennt. Innerhalb der riesigen Blase, die sich über Olympia bläht, geht es streng zu. 14 Tage müssen all jene unter sich bleiben, die von überall her nach Japan gereist sind. Das gilt für Sportler genauso wie für die tausenden Betreuer, Trainer und Medienschaffenden. Über allem schwebt die Angst vor einer Ausbreitung des Coronavirus. Gegen massive Widerstände haben das Internationale Olympische Komitee (IOC) und die japanische Regierung die Spiele inmitten der Pandemie durchgedrückt. Seit etwas mehr als einer Woche brennt das Olympische Feuer – und es stellt sich die Frage, ob das eine gute Entscheidung war. Was hat Corona aus diesen Sommerspielen gemacht?
180 Prozent mehr Corona-Fälle in Tokio
Fest steht, dass der Druck auf IOC und Organisatoren gewaltig ist. Die Spiele als Umschlagplatz für Coronaviren aus der ganzen Welt? Das soll unter allen Umständen verhindert werden. Doch die Zahlen in Tokio steigen rasant. Regelmäßig verschickt das Organisationskomitee eine Mail mit der Betreffzeile: „Covid-19 Updates“. Am Freitag waren es 3300 positive Fälle in Tokio, ein Anstieg um 180 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Am Samstag wurden schon 4058 Neuinfektionen gemeldet, 101 Menschen lagen mit schweren Symptomen im Krankenhaus. Der Inzidenzwert in der Stadt nähert sich der 100er-Marke, im Rest des Landes liegt er bei etwa 30. Noch ist nicht klar, ob und wie diese Zahlen in Zusammenhang mit den Olympischen Spielen stehen. Aber: „Wir haben noch nie eine Ausbreitung der Infektionen in diesem Ausmaß erlebt“, sagte Japans Kabinettschef Katsunobu Kato Ende der vergangenen Woche.
In Japan waren die Spiele bis zuletzt nicht besonders beliebt. Umfragen ergaben, dass rund 70 Prozent der Bevölkerung gegen deren Durchführung waren. Das soll sich mittlerweile etwas verbessert haben, auch weil die japanischen Sportler sehr erfolgreich sind. Proteste gibt es trotzdem. Während des Tennis-Finales mit Alexander Zverev demonstrierte eine kleine Gruppe lautstark ihren Unwillen. „Olympics kill the poor“, stand auf einem Schild: Die Olympischen Spiele töten die Armen.
Das IOC, die japanische Regierung und das Tokioter Organisationskomitee ignorierten die Forderungen nach einer Absage. Stattdessen betonten sie, die Sicherheit habe „oberste Priorität“.
Ein positiver Test bei Olympia? Dann beginnt das Eingesperrtsein
Das Regelwerk innerhalb der Olympiablase ist umfangreich. Die Insassen müssen ein aufwendiges Sicherheitsprotokoll über sich ergehen lassen. Eine App auf dem Handy überwacht jede Bewegung. Es ist verboten, das GPS-Signal auszuschalten. Die Maske darf nur im Hotelzimmer und beim Essen abgenommen werden. Anfangs täglich, dann alle vier Tage muss ein PCR-Test gemacht werden. An sämtlichen Eingängen stehen Wärmesensoren, die die Körpertemperatur überprüfen. Die Bewegungsfreiheit ist massiv eingeschränkt. Hotel, Pressezentrum und die Wettkampfstätten. Dazwischen nur die offiziellen Busse oder spezielle Taxen. Der Rest Japans ist in den ersten zwei Wochen nach der Anreise tabu. Keine Restaurants. Keine Sehenswürdigkeiten. Keine öffentlichen Verkehrsmittel. Kontakt zur japanischen Bevölkerung ist laut Playbook, einer Art Bedienungsanleitung für den Aufenthalt in Japan, verboten. Nun geht sogar das Gerücht um, dass die Organisatoren diese Quarantäne light bis zum Ende der Spiele ausdehnen wollen. Ein positiver Test wäre dann gleichzusetzen mit absolutem Eingesperrtsein.
Das erlebte Radprofi Simon Geschke. Unmittelbar vor dem Straßenrennen zu Beginn der Spiele ereilte ihn das Ungemach. Trotz einer sehr geringen Virenlast – mit seinem CT-Wert von 31 hätte er zum Beispiel bei der Tour de France weiter fahren dürfen – musste er eine zehntägige Quarantäne absitzen. Dazu wurde er in ein spezielles Hotel verfrachtet. Dort sitzen die Unglücklichen, die im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen einen positiven Corona-Test hatten. Die Zustände sind mies. Geschke verglich sein Zimmer, dessen Türen und Fenster verschlossen sind, mit einer Psychiatrie. Die Wäsche müssen die Bewohner des Hotels selbst im Waschbecken waschen, dreimal täglich dürfen sie sich etwas zu Essen in der Lobby abholen. Eine Auswahl gibt es dort nicht. Reis mit Sojasoße.
Der Olympia-Zeitplan für Tokio
Termin Die Olympischen Sommerspiele finden offiziell vom 23. Juli bis 8. August in Tokio statt. Zentrum der Spiele ist das Olympiastadion, das für 1,3 Milliarden Euro von Stararchitekt Kengo Kuma entworfen wurde.
Wettkämpfe In 33 Sportarten werden 339 Wettkämpfe in 51 Disziplinen ausgetragen. Die ersten finden schon zwei Tage vor der offiziellen Eröffnungsfeier statt: Fuß- und Softballspiele werden bereits am 21. Juli ausgetragen.
TV Im Fernsehen laufen die Spiele kostenlos bei Eurosport, ARD und ZDF haben ebenfalls Lizenzen. (AZ)
Auch andere Athleten klagten über die Bedingungen. Holländische Sportler traten im Quarantänehotel nahe dem olympischen Dorf in einen Sitzstreik in der Lobby, um für mehr Frischluft zu protestieren. Als sie sich nach stundenlangen Verhandlungen eine überwachte Viertelstunde am offenen Fenster erstritten hatten, sagte die Skateboarderin Candy Jacobs: „Der erste Atemzug frischer Luft war der traurigste und auch beste Moment meines Lebens.“
Quarantäne ist "halb Psychiatrie, halb Gefängnis"
Im Fall von Simon Geschke schaltete sich sogar die deutsche Botschaft in Japan ein, um ihrem Landsmann eine kleine Erleichterung zu ermöglichen. Am Ende durften ihm Lunchpakete gebracht werden, Geschke erhielt außerdem ein Fahrrad mit Rollentrainer, damit er im Zimmer trainieren konnte. Und es wurde ihm erlaubt, nach zwei negativen PCR-Tests die Quarantäne zwei Tage früher zu verlassen. Das Argument der deutschen Seite war, dass sein CT-Wert ausreichend gering sei, dass Geschke kaum eine Infektionsgefahr für andere Personen darstelle. Zudem sei es mit seinen Werten in Europa erlaubt zu reisen. So konnte man sich darauf verständigen, dass der Radsportler schon am Sonntag die Heimreise antreten durfte.
Vorher hatte Geschke die Zustände in der Quarantäne als „halb Psychiatrie, halb Gefängnis“ bezeichnet. „Wobei es Psychiatrie eher trifft“, sagte Geschke dem ZDF. Als dessen Kamerateam vor dem Quarantänehotel aus einem der Spezialtaxis heraus drehen wollte, wurde es reichlich rabiat verscheucht.
Denn auch das ist ein Thema in Tokio: Freie Recherche vor Ort ist nahezu unmöglich. Das bemängelt zum Beispiel der Investigativjournalist Hajo Seppelt, der immer wieder mit Dopingenthüllungen für Aufsehen sorgt. Informanten vor Ort zu treffen ist verboten. Die Arbeit der Anti-Dopinglabore kann niemand neutral beurteilen. Ob genau das im Sinne des IOC sein könnte, wurde Seppelt gefragt. So weit würde er nicht gehen, antwortete der mit allen Wassern gewaschene Rechercheur diplomatisch. Aber so ganz ungelegen dürfte es manchem Funktionär nicht kommen, dass eine kritische journalistische Begleitung der Spiele quasi unmöglich ist. Denn wer gegen die Ausgangsbeschränkungen verstößt, dem drohen Geldstrafe, Entzug der Akkreditierung oder gar Haft. Bei aller Freundlichkeit: Die Japaner lassen keinen Zweifel daran, wie ernst sie es mit den Regeln nehmen. Dementsprechend groß ist die Disziplin innerhalb der Blase.
Auf der anderen Seite der Absperrungen haben sie eher wenig Verständnis für Sportler wie Geschke. Ob eine zehntägige Quarantäne – wenn auch zunächst streng und für Sportler ohnehin ärgerlich – wirklich auf die diplomatische Ebene gehoben werden müsse, fragen sich viele Japaner. Schließlich wussten alle Olympiateilnehmer, dass diese Spiele in einer Pandemie nicht sein würden wie andere. In Stadtgesprächen in Tokio hört man dieser Tage auch öfter die rhetorische Frage: Wer das Durchhaltevermögen hat, täglich seinen Körper zu trainieren, schaffe es doch auch, ein paar Tage allein in einem Zimmer zu sitzen?
Die Olympiablase zählt rund 260 Infektionsfälle
Die strengen Quarantäneregeln für den Fall, dass sich Athleten infizieren, bilden eine Säule des Sicherheitskonzepts in Tokio. Wobei die Regeln immer lockerer wurden, je näher die Eröffnung der Spiele rückte. Zunächst war man davon ausgegangen, dass Athleten, die in engem Kontakt mit einer infizierten Person gestanden hatten, den Sportveranstaltungen fernbleiben müssen. Kurz vor dem Olympiastart wurde entschieden, dass betroffene Sportler einige Stunden vor ihrem Wettkampf nur einen negativen Test brauchen, um doch anzutreten.
Mittlerweile ist diese Regelung auch auf Athleten ausgeweitet, die selbst positiv getestet wurden. Sie müssen sich mindestens sechs Tage isolieren, einen negativen Test vorlegen – und dürfen dann starten. Das Argument der Regierung: Die Athleten seien schließlich nur für den Sport gekommen. Zugleich klingt dies für die japanische Öffentlichkeit nicht danach, als wäre die Sicherheit wirklich „oberste Priorität“. Diese Vermutung nährt die Tatsache, dass die Infektionszahlen in der olympischen Blase täglich zunehmen. Am Sonntagnachmittag erklärten die Organisatoren, dass über den Tag hinweg bis dahin 18 weitere Personen positiv auf Covid-19 getestet worden waren. Insgesamt zählte die Olympiablase damit 259 Infektionsfälle.
Womit sich auch die Frage stellt, inwieweit es sich überhaupt um eine Blase handelt. Toshiro Muto, Chef des Organisationskomitees, beteuerte am Sonntag, dass die Infektionsgeschehen innerhalb und außerhalb der Blase nicht miteinander zusammenhängen. Auch von den Olympischen Spielen unabhängige Virologen bestätigen dies bis jetzt, sofern es um die direkte Weitergabe des Virus geht. Allerdings wird auf einen indirekten Effekt der Spiele hingewiesen. Der Fakt, dass „Tokyo 2020“ nun stattfindet, sende an die Bevölkerung die Botschaft, die Situation sei nicht ganz so schlimm. Dies führe zu Leichtsinnigkeit.
Bis jetzt verzeichnet das Land vergleichsweise niedrige Corona-Raten – rund 930.000 Infektions- und 15.200 Todesfälle. Allerdings arbeiten die Krankenhäuser angesichts der alternden Bevölkerung und eines Mangels an Intensivbetten an der Kapazitätsgrenze. Zudem ist bisher nur ein Drittel der Japaner vollständig geimpft. Für den August befürchten Virologen einen Kollaps des Tokioter Gesundheitssystems.
Draußen lebt man, als gäbe es keine Pandemie
Und wenn man sich fragt, warum die Zahlen jetzt steigen, kommt man auch auf die Regeln im Alltag, die im Gegensatz zur Situation hinter den olympischen Zäunen eher durch ihre Lockerheit auffallen. Zwar befinden sich Tokio und dessen Umland sowie mehrere weitere Metropolregionen im Ausnahmezustand. Menschen sind zum Daheimbleiben angehalten, Lokale sollen abends keinen Alkohol ausschenken, Restaurants nur noch zum Mitnehmen verkaufen. Zudem tragen die Leute draußen auf der Straße Masken – sogar beim Joggen. Ansonsten aber ist das Leben weitgehend so, als gäbe es keine Pandemie. Zumal der Ausnahmezustand auch wegen rechtlicher Hürden nicht mehr ist als ein deutlicher Appell. Die Restaurants können trotzdem weiter öffnen. Dort herrscht teilweise reges Leben. In Kellerlokalen sitzen Gäste eng an eng, schreien sich im Abendlärm an, vergessen die Abstandsregeln.
Auch weil die japanische Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung unzufrieden ist, tut die Politik sich schwer, nun unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Nicht zuletzt, um die Absage der Spiele zu vermeiden, hat die Regierung die Einschränkungen, die sie gegenüber der im Land lebenden Bevölkerung am Anfang verschlief und nun kaum mehr verhängen kann, auf die ausländischen Olympiagäste abgewälzt. Schließlich sind diese die vielen Gesichter einer nach wie vor mit Skepsis betrachteten Veranstaltung. Daran ändern auch schillernde Siegerbilder unter den Olympischen Ringen nichts.