Draußen war längst die Nacht über Tokio hereingebrochen. Die Zikaden auf den wenigen Bäumen veranstalteten einen Höllenlärm. Drinnen saß Alexander Zverev auf dem kleinen Podium und strahlte bis über beide Ohren. Immer wieder griff er zu der Goldmedaille, die um seinen Hals hing, als wolle er sicher gehen, ob sie tatsächlich noch da ist. Die Sprecherin des Organisationsteams las gerade von einem Blatt Papier ab, wie historisch das doch gewesen sei, was der Hamburger da gerade geleistet hat. Die Bild, die mit Zverev eine Art von Hassliebe verbindet, titelte da schon in großen Lettern, dass der 24-Jährige jetzt „unser GOLD-Junge“ sei.
Noch nie hatte es zuvor bei den Männern einen deutschen Olympiasieger gegeben. Und auch sonst war das bisher eher keine Liebesbeziehung zwischen dem deutschen Tennisbund und Olympia. 1912 hatten Dora König und Heinrich Schomburg im Mixed Gold geholt. Steffi Graf dann 1988, vier Jahre später Boris Becker und Michael Stich im Doppel. Und jetzt: Zverev.
Zverev fehlte das Interesse der Deutschen
Der hatte sich immer wieder beschwert, dass ihm die Herzen seine Landsleute bisher eher verschlossen geblieben sind. Er verpackte das in eine allgemeine Sorge darüber, dass es in Deutschland nur ein geringes Interesse am Tennissport gäbe. Vor ein paar Monaten hatte er sich nach dem Sieg bei Masters-Turnier in Madrid darüber beschwert, dass ihn in der Online-Pressekonferenz keine einzige Frage auf Deutsch gestellt worden war. „Keine? Ich habe gerade ein Masters gewonnen und es gibt keine Fragen auf Deutsch? Oh mein Gott. Wie Sie sehen, interessiert es die Deutschen wirklich nicht.“ Sprachs und ging.
Diesmal ist ihm die öffentliche Aufmerksamkeit sicher. Das zeigte sich allein daran, dass er mindestens ein Dutzend Fragen auf Deutsch gestellt bekam. Und fast immer kam Zverev wieder auf das zurück, was ihn an diesem Abend am meisten beschäftigte. Die Größe dieses Sieges und die Freude darüber. „Das ist so viel größer, als alles andere im Sport. Ich habe schon einige Finals gewonnen. Aber eine Goldmedaille bei Olympia ist für mich so viel mehr wert. Weil ich sie für das ganze Land gewonnen habe, ein unglaubliches Gefühl.“
Grundlage dafür war allerdings nicht der klare Sieg gegen den Russen Karen Khachanov im Finale. Sehr viel wichtiger und schwerer war, dass Zverev im Halbfinale den bis dahin unschlagbar scheinenden Nowak Djokovic in drei Sätzen bezwungen hatte. Khachanov hatte diesem Zverev nicht viel entgegenzusetzen. „Er hat heute unglaublich gespielt“, räumte er dann auch unumwunden ein. „Ich war ja nicht schlecht drauf und habe mich gut gefühlt. Aber er war an diesem Tag viel zu gut, als dass ich etwas gegen ihn unternehmen hätte können.“
Zverev wollte die Goldmedaille unbedingt
Vom ersten Ballwechsel an hatte Zverev keinen Zweifel daran gelassen, dass er diese Goldmedaille unbedingt will. Variantenreich, druckvoll, nahezu fehlerfrei – der Deutsche war in allen Belangen überlegen. Nach einer Stunde und 19 Minuten beförderte Khachanov den Ball ein letztes Mal ins Netz. Zverev sank in die Knie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Eine kleine Delegation des deutschen Olympiateams veranstaltete auf den Rängen einen Höllenlärm. Sogar der DOSB-Präsident Alfons Hörmann, ansonsten ein eher zurückhaltender Jubler, sah sich zu einem Gefühlsausbruch veranlasst. Zverev winkte hinauf und beförderte seinen Grüßen einen Ball hinterher, der dankend gefangen wurde.
Frisch geduscht stand er wenig später im Trainingsanzug zur Siegerehrung bereit und lauschte ergriffen der deutschen Hymne. „Es gibt nichts Besseres, als das Gefühl, das ich jetzt habe“, sagte er danach. „Die Olympischen Spiele sind das größte Sportereignis der Welt. Hier spielst du nicht für dich, hier spielst du für dein Land. Das ist mit nichts vergleichbar.“ Die Frage (von einer amerikanischen Journalistin), wie er denn die sportliche Wertigkeit des olympischen Turniers einschätze, immerhin hätten einige Spieler abgesagt, konterte Zverev kühl. Bis auf den verletzten Rafael Nadal seien doch alle dagewesen.
Zverev: "Ich habe so ein goldenes Ding um meinen Hals rum."
Und so ging es munter weiter. Wie er mit den schwierigen Bedingungen zurechtgekommen sei. Immerhin hatte er neun Matches in acht Tagen gespielt, da er auch im Doppel am Start war. „Offensichtlich ganz gut“, antwortete mit einem breiten Grinsen und griff mal wieder zur Medaille, die vor seiner Brust hing. „Es gibt momentan wenige Menschen, die glücklicher sind als ich. Ich habe so ein goldenes Ding um meinen Hals rum. Und das ist nicht eine von den 15 Ketten, die ich normalerweise trage. Ich habe die Goldmedaille und morgen fliege ich damit nach Hause.“
Dorthin also, wo sie ihn nun wohl tatsächlich anders wahrnehmen könnten als bisher. Die von Zverev diagnostizierte mangelhafte Aufmerksamkeit hatte wohl auch damit zu tun, dass er auf und neben dem Platz nicht immer sein bestes Gesicht zeigte. Emotionale Ausbrüche inklusive zerschlagener Schläger und durch die Gegend fliegender Wasserflaschen sind keine Seltenheit. Vor einiger Zeit hatte er Ärger mit seinem Ex-Manager, es ging natürlich ums Geld, und seine Ex-Freundin Olga Sharypova warf ihm vor, er habe sie missbraucht. Zverev bestritt das stets.
Nun also Olympiasieger. Der in Monaco lebende Hamburger kehrt als Held zurück. Er wolle den Tennissport in Deutschland wieder bekannter machen. „Ich möchte, dass die Kinder wieder zu ihren Eltern gehen und sagen, ich will Tennis spielen. Das ist natürlich wichtig für mich, weil ich diese Sportart liebe. Tennis hat mir diese Goldmedaille gegeben. Ohne Tennis wäre ich auch nicht wirklich jemand.“
Wie feiert Zverev den Sieg?
Allzu lange wollte Zverev dann aber nicht über derart grundsätzliche Dinge sprechen. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er überall lieber sein wollte, als auf dieser Pressekonferenz. Dabei wisse er noch gar nicht, wie denn der Sieg noch gefeiert werden solle im Olympischen Dorf. „Ich hoffe, dass die Leute da mehr Ideen haben als ich. Ich bin momentan einfach nur glücklich und habe keine Ahnung, was heute noch passiert.“
Es ist anzunehmen, dass sie dem vierten Goldmedaillengewinner des deutschen Teams einen gebührenden Empfang bereitet haben. Und wie alle anderen muss auch Zverev spätestens 48 Stunden nach seinem letzten Wettkampf Japan verlassen haben. Im Gepäck hat er dann eine Goldmedaille, „die ich in dieser Nacht nicht mehr ausziehen werde“.