Joachim Löw wirkte in keinem Moment wie ein Bundestrainer, der nach 15 Jahren zermürbt aufgibt.
Einträchtig saß der 61-Jährige in der Frankfurter DFB-Zentrale neben Präsident Fritz Keller und Nationalmannschafts-Direktor Oliver Bierhoff und verkaufte seinen Rückzug nach der Europameisterschaft vielmehr als letzten großen Dienst an der Fußball-Nation. Löw sprach eindringlich von "Erneuerung", "Energie", "neuen Impulsen" und "neuen Reizen", die bei der Zäsur in diesem Sommer geboten seien, um bei der Heim-EM 2024 mit der neuen goldenen Generation um Joshua Kimmich, Leon Goretzka oder Leroy Sané ein Sommermärchen à la WM 2006 erleben zu können.
"Das ist ein Turnier im eigenen Land, das muss zu einer Explosion führen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass diese junge Generation ihren Leistungszenit 2024 erreicht und erleben wird", verkündete Löw. Nicht die nach dem 0:6-Debakel in Spanien weiter gesunkenen Sympathiewerte für ihn und seine Arbeit ließen bei ihm in den vergangenen Wochen den Entschluss reifen, nicht mehr bis zum Vertragsende nach der WM 2022 in Katar weitermachen zu wollen, sondern der Weitblick auf das eigene Wirken. "Ich sehe mich 2024 nicht mehr in dieser Position. Wenn man von Erneuerung und Energie spricht, dann ist nach der EM der richtige Zeitpunkt, den Stab an einen anderen Trainer weiterzugeben. Es soll nicht daran scheitern, dass ein Trainer an seinem Stuhl klebt!"
In der von ihm ausgelösten und sofort heftig aufgeflammten Nachfolgediskussion übte Löw Zurückhaltung. Konkret angesprochen auf seinen einstigen Weltmeister-Assistenten und Bayern-Trainer Hansi Flick sagte der Noch-Amtsinhaber: "Es ist nicht meine Aufgabe, über Nachfolger zu sprechen. Die Entscheidung ist beim DFB und Oliver in guten Händen." Bierhoff ist verbandsintern der maßgebliche Mann, auch wenn am Ende das Präsidium um Keller insgesamt entscheiden wird. "Ich ziehe den Kandidaten nicht wie Kai aus der Kiste", kündigte Bierhoff allerdings sofort einen einvernehmlichen Lösungsansatz an.
Von "Ruhe" und "Sorgfalt" bei der Suche sprach Keller. Es gebe "keine Denkverbote". Eine Deadline setzte DFB-Direktor Bierhoff nicht, der Löw-Nachfolger könnte auch erst nach der EM benannt werden. "Wir haben absolut keine Zeitnot. Es ist keine dringende Entscheidung", sagte Bierhoff. Der neue Bundes-Jogi werde aber nicht erst zwei Tage vor der Fortsetzung der WM-Qualifikation im September feststehen.
"Ich werde in der nächsten Zeit keine Kandidaten kommentieren", sagte Bierhoff zu den gehandelten Namen von Flick und Jürgen Klopp bis hin zu dem gerade vereinslosen Ralf Rangnick oder U21-Coach Stefan Kuntz. "Wir haben gute Trainer in Deutschland, im Ausland und im DFB", sagte Bierhoff. Eine interne Platzhalterlösung strebt er nicht an. Er will vielmehr die Trainerwahl "bis zu Ende denken", also bis zur EM 2024. Damit ist Flick automatisch die A-Lösung. Klopp ist raus, wenn er bei seiner Aussage bleibt, im Sommer nicht zur Verfügung zu stehen.
Bierhoff schloss zudem aus, dass man erstmals in der DFB-Geschichte einen ausländischen Trainer Nationalelf engagieren werde: "Ich sehe die Chancen als gering, was ich auf dem Markt sehe." Der 52-Jährige versicherte zudem, dass man Trainer mit einem bestehenden Vertragsverhältnis bei Vereinen - wie Flick (FC Bayern/2023) oder Klopp (FC Liverpool/2024) - nicht ohne Absprache mit den aktuellen Arbeitgebern kontaktieren werde. Unvorbereitet traf Bierhoff und den Verband die Löw-Entscheidung nicht, wie Bierhoff versicherte: "Man hatte einen solchen Fall immer im Hinterkopf. Man war in den letzten Monaten nicht immer tatenlos. Jetzt geht es ans Eingemachte."
Löw war wie Bierhoff bei der Pressekonferenz bemüht, den Fokus erstmal auf die am 11. Juni beginnende EURO zu richten. "Ab heute gilt meine völlige Konzentration der EM", sagte Löw. Dafür wolle er "alles mobilisieren, alle Kräfte freisetzen und alle Energie bündeln", um beim Turnier "das Maximale zu erreichen". Er glaubt nicht, dass sein angekündigter Abschied der Mannschaft um Kapitän Manuel Neuer "einen besonderen Kick" geben wird. Seine Spieler seien ehrgeizig, "unabhängig davon, ob der Trainer hinterher weitermacht".
Löw befindet sich schon im EM-Tunnel. Verstört reagierte er dabei auf Meldungen, wonach ein Comeback der 2014-Weltmeister Thomas Müller und Mats Hummels schon eine beschlossene Sache sei. "Ihr müsst mich nach vielen Jahren doch einschätzen können", sagte er an die Reporter gerichtet: "Man sollte mir zuhören: Ich habe weder die Tür auf- noch zugemacht." Es bleibe bei seinem angekündigten Fahrplan hinsichtlich des EM-Kaders: "Ab Anfang Mai beginnt unsere Entscheidungsfindung."
Er träfe auch diese Entscheidung nicht danach, ob er je nach einem Pro oder Kontra für Müller, Hummels oder Jérôme Boateng öffentlich als Umfaller oder Sturkopf dargestellt werde. Seine Zukunft nach 15 Bundestrainerjahren ließ er ebenfalls offen. "Grundsätzlich kann ich nichts völlig ausschließen", sagte er zu einem neuen Trainerjob.
Für Löws neuen EM-Kurs nach der Rücktritts-Entscheidung werden schon in der kommenden Woche Fingerzeige erwartet. Am 19. März wird er den Kader für die ersten Länderspiele 2021 gegen Island (25.3.), Rumänien (28.3.) und Nordmazedonien (31.3.) nominieren. Klar ist: Müller und Co. bleiben dann noch außen vor. Aber holt Löw etwa den Dortmunder Marco Reus noch einmal zurück? Setzt er den Umbruch aus oder fort?
"Manche sagen, jetzt ist er befreit", sagte Löw nach der Verkündung des Rückzugs im Sommer. Nein, Löw will und wird sich bis zum letzten Arbeitstag als Bundestrainer - am liebten beim EM-Finale am 11. Juli in Wembley - treu bleiben. "Wenn ich etwas ganz besonders schätze an diesem Job, dann sind es die Turniere", sagte er hochmotiviert.
Seine Vorgesetzten glauben an ein Happy End mit dem Weltmeistercoach von 2014. Die Spieler würden ihrem Trainer ein "wirklich großartiges Abschiedsgeschenk" machen wollen, glaubt DFB-Boss Keller: "Zur großen Laudatio möchten wir ansetzen, wenn die EM vorbei ist."
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