Im Sog von Corona ist die Arbeitslosenquote in Israel von 3,4 auf weit über 20 Prozent gestiegen, in Tel Aviv und anderen Städten des Landes demonstrieren Tausende gegen das Krisenmanagement seiner Regierung – und innerhalb von Netanjahus Koalition wird erbittert um Zuständigkeiten und Kompetenzen gerungen. Die vom Ministerpräsidenten bereits angekündigte Annexion von Teilen des Westjordanlandes, so scheint es, hat vor diesem Hintergrund keine Priorität mehr. Ein Thema aber bleibt sie gleichwohl.
Israel will das Jordantal annektieren - das ist die Ausgangslage
Der umstrittene Friedensplan von US-Präsident Donald Trump würde es den Israelis erlauben, bis zu 30 Prozent des Westjordanlandes zu israelischem Staatsgebiet zu erklären – unter anderem das Jordantal und einige jüdische Siedlungen wie die Kleinstadt Maale Adumin am Stadtrand von Jerusalem. In ihrem Koalitionsvertrag haben Netanjahus konservativer Likud und die Mitte-Rechts-Partei Blau-Weiß von Verteidigungsminister Benny Gantz dazu den 1. Juli als Stichtag genannt, diesen aber verstreichen lassen. Der Kampf gegen Corona, sagt Gantz, habe für ihn jetzt Vorrang. Ähnlich sieht es auf palästinensischer Seite aus: Es gibt zwar regelmäßig Proteste gegen die Pläne, aber auch hier ist die Angst vor dem Virus gerade größer als die vor einer Annexion. Bisher werden im Westjordanland einzelne Gebiete komplett von den Palästinensern verwaltet, andere von Israelis und Palästinensern gemeinsam, wieder andere nur von Israel. Aus dem Gaza-Streifen hat Israel sich im Hagr 2005 komplett zurückgezogen, hier herrscht die islamistische Hamas, die von der EU, den USA und Israel als terroristische Organisation eingestuft wird.
Die Position Israels: So viele Siedler sind schon jetzt im Jordantal
Seit mehr als 3000 Jahren leben in Judäa und Samaria, dem heutigen Westjordanland, Juden – und da es bis heute keinen Staat Palästina gibt, argumentieren die Israelis, könne hier auch kein anderer Staat Gebietsansprüche geltend machen. Vor allem das Jordantal entlang der Grenze zu Jordanien ist für die einzige Demokratie des Nahen Ostens eine zwar dünn besiedelte, aber strategisch wichtige Verteidigungsbarriere: fiele das Tal irgendwann komplett an die Palästinenser, könnte im Falle eines Krieges der Feind auf arabischem Territorium bis Jerusalem durchmarschieren. Trumps Friedensplan, sagt Netanjahu, sei für Israel eine „einmalige und historische Gelegenheit, unsere Souveränität über unsere Siedlungen in Judäa und Samaria sowie über andere für unsere Sicherheit wichtige Orte anzuwenden.“ Insgesamt leben in den jüdischen Siedlungen inzwischen etwa 600.000 Menschen. Sie beschäftigen dort, unter anderem, auch mehr als 25.000 Palästinenser.
Die Position der Palästinenser: Fatah und Hamas wollen "nationale Front" bilden
Sie haben Trumps Plan und jede Verhandlung darüber kategorisch abgelehnt. „Wir werden alle Formen des Widerstandes nutzen“, droht Saleh al-Aruri, ein führender Funktionär der Hamas. Eine Annexion wäre aus Sicht der Palästinenser gleichbedeutend mit einem Ende der angestrebten Zwei-Staaten-Lösung. Auch deshalb sind die rivalisierenden Parteien Fatah und Hamas zuletzt wieder etwas zusammen gerückt. Es sei an der Zeit, eine „nationale Front“ zu bilden, findet Dschibril Radschub, der Generalsekretär der im Westjordanland regierenden Fatah. Seit der gewaltsamen Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas knirscht es zwischen Hamas und Fatah. Mehrere Versöhnungsversuche sind gescheitert, hauptsächlich aufgrund der Weigerung der Hamas, ihre Waffen abzugeben. Die Fatah dagegen wirbt für einen „souveränen, unabhängigen und entmilitarisierten Palästinenserstaat“
Die rechtliche Lage: So gehen internationale Verträge mit der Lage um
Sowohl die Europäische Union als auch der Bundestag, der gerade erst eine Resolution gegen eine mögliche Annexion verabschiedet hat, berufen sich in ihrer Kritik an den israelischen Plänen auf das Völkerrecht. Danach ist die Annexion von besetzten Gebieten ein Verstoß gegen die UN-Charta. Israel dagegen, das 1967 im sogenannten Sechs-Tage-Krieg den Gazastreifen, das Westjordanland, den Golan und Ost-Jerusalem erobert hatte, beruft sich auf die historische und religiöse Beziehung der Juden zu den betreffenden Gebieten und seine eigenen Sicherheitsbedürfnisse in einer von seinen Feinden und Gegnern dominierten Region. Der von Israels Kritikern immer wieder angeführte Artikel 49 der Genfer Konvention verbiete keineswegs die Besiedlung von Land, das keiner gesetzmäßigen staatlichen Autorität unterliege und sich nicht in Privatbesitz befinde. Anstatt von „besetzten Gebieten“ spricht Israel lieber von „umstrittenen Gebieten.“ Rechtlich gesehen lasse sich die West Bank am besten als Territorium bezeichnen, auf das konkurrierende Ansprüche erhoben würden, die möglichst in einem Friedensprozess gelöst werden sollten. Das historische Abkommen von Oslo aus dem Jahr 1993, das die Basis für einen Friedensvertrag mit den Palästinensern schaffen sollte, klammert den Status Jerusalems und die Zukunft der Siedlungen aus.
Die weiteren Aussichten: Im Konflikt um das Jordantal ist alles offen
Auf eine schnelle Annexion deutet bislang nichts hin, zumal diese Entscheidung nach Netanjahus Worten im Einvernehmen mit den USA getroffen werden soll und auch das politische Washington gerade andere, drängendere Probleme beschäftigen. Die palästinensische Autonomiebehörde, also die Fatah, hat Israel inzwischen zu Verhandlungen aufgefordert und ihre Bereitschaft erklärt, auch kleinere territoriale Einbußen in Kauf zu nehmen. Da die Palästinenser schon mehrere Friedensangebote ausgeschlagen und sich seit 2014 allen direkten Gesprächen verweigert haben, wird diese neue Offerte in Israel jedoch skeptisch gesehen. Erschwerend hinzu kommt, dass aufseiten der Palästinenser niemand ein Verhandlungsmandat hat wie Yassir Arafat damals als unumstrittener Palästinenserführer in Oslo. Die Fatah misstraut der Hamas – und die Hamas der Fatah. Demokratisch legitimiert sind beide nicht mehr: Palästinenserpräsident Mahmud Abbas war eigentlich nur bis 2009 gewählt, da es seitdem keine Wahlen mehr gegeben hat, ist er noch immer im Amt.
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