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Memmingen: Für diesen Verein spielen nur Flüchtlinge: Wenn Sport Wirkung entfaltet

Memmingen

Für diesen Verein spielen nur Flüchtlinge: Wenn Sport Wirkung entfaltet

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    Viele Nationen, eine Mannschaft: Der FC Internationale Memmingen setzt sich beinahe komplett aus Flüchtlingen zusammen.
    Viele Nationen, eine Mannschaft: Der FC Internationale Memmingen setzt sich beinahe komplett aus Flüchtlingen zusammen. Foto: Uwe Hirt

    Sehnsüchtig blickt Omar Kassama hinüber zu seinen Mitspielern auf dem kurz geschorenen Rasen. Sie lachen und feixen. Ein Spieler hat dem anderen den Ball durch die Beine geschoben, hat ihn "getunnelt". Die Stimmung ist gelöst, unbeschwert. Wenn der 26-jährige beim FC Internationale Memmingen kickt, flüchtet er aus seinem eintönigen Leben. Vergisst Sorgen, kann die Seele baumeln lassen. Muss nicht darüber nachdenken, was aus ihm wird. Ganz anders gestaltet sich Kassamas Alltag.

    Kassamas Äußeres erinnert an den ehemaligen deutschen Nationalspieler Gerald Asamoah. Muskulöse Figur, Kraft strotzend. Zweikämpfen mit ihm geht man auf dem Platz lieber aus dem Weg. Auch das Leben besteht für ihn meist aus Kampf. Er musste sich durchsetzen, anders hätte er den strapaziösen Weg aus Westafrika bis hierher, ins Unterallgäu, wohl nie geschafft. Kassama ist im Senegal geboren und war einer von über zwei Millionen Menschen, die 2015 nach Deutschland flüchteten. Kassama hielt sich ein Jahr lang in Libyen auf, ehe er mit dem Schlauchboot die riskante Fahrt übers Meer wagte.

    An der Grenze zwischen Sudan und Lybien wurde eine Gruppe von Flüchtlingen bereits im Mai 2014 aus der Wüste gerettet.
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    Die Flüchtlingskrise von 2015 spaltete die Gesellschaft. Wir zeigen bewegende Bilder über eine Zeit, die in Erinnerung bleiben wird.

    Dass es den FC Internationale überhaupt gibt, hat mit Mularzyk zu tun

    Sein Antrieb: ein besseres Leben. Über seine Erfahrungen und den Überlebenskampf zu erzählen, das fällt ihm schwer. Teils liegt das am begrenzten deutschen Wortschatz, teils am Verdrängen. Lieber beschäftigt sich Kassama mit seiner Zukunft. In Deutschland will er ankommen. Und zwar richtig. Raus aus der Asylunterkunft in Ottobeuren, rein in ein selbstständiges Leben. Bislang verweigert die Ausländerbehörde die Arbeitserlaubnis – obwohl Kassama nach Hauptschulabschluss und Praktika Anschlussverträge angeboten worden waren. Er würde gerne arbeiten, darf aber nicht.

    Der Senegal gilt als sicheres Herkunftsland, politisch eine Demokratie, wirtschaftlich ein Armenhaus: Der Senegal gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern. Kassama gilt somit als Wirtschaftsflüchtling. Menschen wie er erhalten nur selten einen Flüchtlingsstatus. "Momentan habe ich nur den Fußball", sagt Kassama. Also das Kicken in Trunkelsberg, nahe Memmingen. Hier hat "Inter", so nennen die Spieler ihren Verein, ein Zuhause gefunden. 18 Nationalitäten sind vertreten, hauptsächlich Flüchtlinge.

    Kommandos gibt der syrische Spielertrainer Hamid Byram. Alle auf Deutsch. Byram sei ein Glücksfall, meint Co-Trainer und Teammanager Manfred Mularzyk. Dass es den FC Internationale überhaupt gibt, hat mit Mularzyk zu tun. Und den Spenden, die der Verein erhält.

    Insgesamt große Akzeptanz für die Mannschaft des FC Internationale

    Seit einem Jahr nimmt Inter am Spielbetrieb teil, führt die Tabelle der B-Klasse Allgäu 1 an. In Ostdeutschland hat Kreisligist FC Al Karama Greifswald, ein Vorzeigeverein für Integration, jüngst seine Mannschaft abgemeldet. Grund: Die Kreisligaspieler wurden wiederholt rassistisch angefeindet. Inter-Kapitän Erich Braier hingegen zeigt sich positiv überrascht. Es gebe Einzelfälle, meint er. "Aber insgesamt ist die Akzeptanz für unsere Mannschaft sehr groß."

    Kassama hat jedes der bisherigen 13 Spiele bestritten. Fußball bedeutet Ausgleich, im Verein findet er Anschluss. Umso härter hat ihn die Coronazeit getroffen. Nur essen und schlafen. "Ich habe ein paar Kilo zugenommen", sagt Kassama. Und lacht. Das erste Mal lacht er.

    Ortswechsel. Das Freiwilligenzentrum in Augsburg (FZ). Wolfgang Taubert betreut das städtische Programm "Sport und Integration". 2016 wurde es ins Leben gerufen, als Folge des großen Stroms. Taubert ist wichtig, dass sich sein Engagement nicht ausschließlich auf Geflüchtete bezieht. Jeder bedürftige Bürger bekomme die Möglichkeit, über Sport Anschluss in der Gesellschaft zu finden, sagt er. Speziell in Augsburg, einer Stadt, in der bald mehr als die Hälfte der Einwohner einen Migrationshintergrund haben wird, gehe es darum, alle Menschen besser einzubinden.

    Mancher Vereinsfunktionär hatte Angst, der Situation nicht gerecht zu werden

    Fünf Jahre nach der großen Flüchtlingskrise zieht Taubert ein Fazit, erfreut sagt er: "Das FZ und Sport sind zu einem Motor geworden." Wer Sport treiben wollte, musste einen Fragebogen ausfüllen. Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Arabisch oder Syrisch. Irgendjemand fand sich immer, der Taubert in der Arbeit mit Ankömmlingen half. Um Kontakte zu knüpfen und Leute einzufangen, initiierte Taubert Sport- und Spielfeste in den Stadtteilen. Vereine wie die TSG Augsburg engagierten sich, auf ihren Anlagen tummelten sich einen Tag lang Leute, Kinder tollten auf Hüpfburgen, Erwachsene trieben Sport, abends wurde gegrillt und zusammengesessen.

    Im Sportverein lernten sich Menschen kennen. Taubert kennt zwei, drei Vereine, an die er sich nicht wenden würde. Nicht wegen Vorbehalten gegenüber Ausländern, wie er sogleich betont, sondern aus anderen Gründen. Teils sind die Mitgliedsbeiträge dort zu hoch, teils das Übungsleiterpersonal nicht vorhanden. Mancher Vereinsfunktionär hatte Angst, der Situation nicht gerecht zu werden.

    Viele Sportvereine haben Nachwuchssorgen

    Seit jeher sind Sportvereine und deren Mannschaften ein Schmelztiegel. Hier bewegen sich Arzt und Schreiner miteinander, gebürtige Münchner und gebürtige Hamburger, Professoren und Hilfsarbeiter, Menschen ohne und mit Migrationshintergrund. Und seit fünf Jahren verstärkt auch Flüchtlinge. Eine der ersten Sportarten, die das FZ anbot, waren Schwimmkurse.

    Projektkoordinatorin Gabriele Opas erinnert sich. Eine Schwimmlehrerin hatte sie angesprochen, im Augsburger Familienbad lernten fortan Jugendliche die Technik. Mit finanzieller Hilfe des bayerischen Innenministeriums mietete Opas Schwimmbecken und -bahnen an. Weil Teilnehmer über einen Verein versichert werden mussten, kontaktierte Opas Funktionäre. Fast alle lehnten ab, die DJK Göggingen erklärte sich aber bereit.

    Früh hatte der Verein erkannt, welche Chance sich ihm bot. Schwimmkurse waren ein Türöffner, um neue Mitglieder für andere Abteilungen anzuwerben. Nachwuchssorgen und fehlendes ehrenamtliches Engagement sind heutzutage ein Grundproblem der Vereine.

    Was treibt sie an? Fünf Flüchtlingshelfer im Gespräch

    Isabella Geier, 60, engagiert sich seit dem Jahr 1987 für Flüchtlinge. Früher kümmerte sie sich vor allem um einzelne Asylbewerber, seit 2015 ist sie im Asyl-Helferkreis in der Hammerschmiede aktiv und ließ sich beim Freiwilligenzentrum Augsburg zur Flüchtlingslotsin ausbilden. Die vierfache Mutter arbeitet als Lehrerin und engagiert sich auch im Augsburger Flüchtlingsrat.

    Margot Laun, 53, arbeitet seit 13 Jahren beim Augsburger Flüchtlingshilfe-Verein „Tür an Tür“. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit dort ist die Begleitung von ehrenamtlichen Helfern. Der Verein bietet unter anderem Deutschkurse an und hat eine Reihe von Integrationsprojekten ins Leben gerufen. In den Räumen des Vereins in der Wertachstraße am Senkelbach gibt es unter anderem ein Café, das als Treffpunkt und Veranstaltungsort dient. Außerdem arbeitet Margot Laun als sogenannte Integrationslotsin für die Stadt Augsburg.

    Evita Dabbelt, 24, studiert an der Universität Deutsch als Fremdsprache und interkulturelle Kommunikation. Sie stammt aus Nordrhein-Westfalen und ist für das Studium nach Augsburg gezogen. Seit dem Herbst 2015 gibt sie ehrenamtlich Deutschkurse für Flüchtlinge beim Verein „Tür an Tür“. Sie sagt: „Ich bin nicht wegen der sogenannten Flüchtlingswelle eingestiegen. Das war mir damals gar nicht so bewusst.“

    Baraa Morad, 25, kam im Jahr 2015 als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland. In seiner Heimat hat er Wirtschaftswissenschaften studiert. Am Augsburger Klinikum will er ab dem kommenden Jahr eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolvieren. Er arbeitet ehrenamtlich im Café des Vereins „Tür an Tür“ und macht Übersetzungen, vom Arabischen ins Deutsche oder Englische. Er lebt mit zwei Brüdern in einer Wohnung in Oberhausen.

    Birgit Ritter, 55, arbeitet am Augsburger Freiwilligenzentrum und hat im Jahr 2015 das Projekt „Flüchtlingslotsen“ aufgebaut. Dabei werden Ehrenamtliche für die Tätigkeit als Flüchtlingshelfer ausgebildet. Aus dem Projekt heraus sind auch 13 Asyl-Helferkreise in den Stadtteilen entstanden.

    Kulturelle Unterschiede führen zu Problemen, Vereine können aber helfen

    In acht Kursen übten Jugendliche, junge Männer und Frauen sowie Kinder das Schwimmen. Gabriele Opas berichtet von 730 Menschen, die bislang einen Kurs absolviert haben. "Wir sind selbst überrascht, dass das so gut funktioniert", sagt sie lächelnd. Gesprochen wird Deutsch. "Für uns ist wichtig, dass alle die Baderegeln und die Begriffe kennen. Das ist unser Anspruch." Einen Dämpfer bedeutete der zwischenzeitliche Lockdown. Nichts ging mehr. Erst recht nicht im organisierten Freizeitsport.

    So ruhte im Augsburger Stadtteil Göggingen der Ball. Nicht nur der Fuß- oder Volleyball, sondern auch der harte Lederball vom Cricket. Vor fünf Jahren gab es in Augsburg keine Aktiven, inzwischen hat sich die Sportart etabliert. Unter dem Dach der DJK Göggingen. Asylbewerber, Migranten und Flüchtlinge begeisterten sich zwar auch für Fußball, Kegeln und Tischtennis, vor allem aber für Cricket. In der DJK entstand dadurch eine Hochburg innerhalb Bayerns.

    Weder Taubert noch Opas verheimlichen Schwierigkeiten. Kulturelle Unterschiede führten zu Problemen. Sport treiben im Verein kann aber helfen. Opas nennt ein Beispiel: "Oft kamen Jugendliche zu spät. Aber wenn Cricket war, waren sie eine halbe Stunde früher da." Um seine Schützlinge zu Disziplin zu erziehen, wählte Taubert teils einen humorvollen Ansatz. Als es darum ging, nach dem Fußballspielen bei der TSG Augsburg die Gerätschaften aufzuräumen, sagte er mit einem Augenzwinkern: "Mir ist klar, dass der Löwe bei euch keinen Ball frisst. Aber bitte räumt ihn wieder auf, wenn ihr fertig seid."

    Sportvereine haben die Basis geschaffen - doch die Schwellenangst bleibt groß

    Fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise haben Sportvereine die Basis geschaffen. Dennoch bleibt die Schwellenangst groß. Wer in einer umzäunten und von Security bewachten Asylunterkunft haust, den kann ein Sportgelände mit Zaun und identisch gekleideten Menschen abschrecken. Daher müssten Vereine aktiver werden und ihre möglichen Mitglieder persönlich einladen, meint Plamen Nikolov.

    Der 38-Jährige sitzt in einem kleinen Büro im Augsburger Sigma Technopark. Er ist beim Bayerischen Landessportverband (BLSV) angestellt, kümmert sich um "Integration durch Sport". Nikolov unterstützt Vereine bei Formalitäten, erklärt etwa, wie Mitgliedsbeiträge über Sozialleistungen und Hilfsprojekte abgerechnet werden können.

    Das Bundesinnenministerium stellt für sein Programm "Integration durch Sport" Millionen Euro bereit, sogenannte Stützpunktvereine erhalten das Geld, wenn sie ihre Integrationsbemühungen nachweisen können. Will ein Verein dauerhaft von Flüchtlingen profitieren, muss er Eigeninitiative entwickeln. Wobei Vereine nicht davor gefeit sind, dass ihre Mühen letztlich umsonst sind. Manchem Mitglied droht die Abschiebung, von heute auf morgen wird es der Gemeinschaft gerissen.

    Flüchtlinge treiben nicht nur Sport, sie sind auch als Trainer tätig

    Wie viele Flüchtlinge inzwischen in einem Sportverein untergekommen sind, lässt sich kaum beziffern. Nur Stützpunktvereine müssen Angaben über die Herkunft machen. Bayernweit haben in der jüngeren Vergangenheit 100 Stützpunktvereine 2600 Flüchtlinge aufgenommen, in Schwaben schlossen sich 350 Flüchtlinge 14 Vereinen an. Sie treiben nicht nur Sport, einige sind als Trainer oder Betreuer tätig.

    Nikolov weiß, wovon er spricht. Der gebürtige Bulgare hat selbst einen Migrationshintergrund. Weil er gut gegen den Ball treten kann, fand er schnell Anschluss in einem Sportverein. Jahrelang war er als Spielertrainer im Amateurfußball aktiv. Seine persönlichen Erfahrungen fließen in seine tägliche Arbeit ein. "Es geht darum, die Menschen über den Sport hinaus zu begleiten und ihnen zu helfen, in der Gesellschaft Fuß zu fassen."

    Zurück in Trunkelsberg. Ein Teamkollege von Kassama ist Sharmaarke Abdi Muuse. Nicht nur wegen seiner dünnen Arme und seinem mageren Gesicht ist er ein Gegenentwurf zu Kassama. Der Somalier arbeitet als Informatiker und lebt in einer eigenen Wohnung. Mit breitem Grinsen erzählt er davon, dass seine Schwester anfangs von ihm Geld forderte. "Sie sagte: Du bist in Europa, dort hat jeder Geld." Als sie selbst nach Deutschland hinterher reiste, sah sie ein, dass sie falsch lag. Abdi Muuse sagt ernst: "Man muss sich hier alles hart erarbeiten."

    Auch Kassama würde gerne hart arbeiten. Jetzt will er aber vor allem etwas anderes: kicken. Als das Gespräch beendet ist, sagt er noch schnell "Auf Wiedersehen". Dann stürmt er aufs Feld.

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