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Kommentar: Das Sommermärchen ist nur noch eine Erinnerung

Kommentar

Das Sommermärchen ist nur noch eine Erinnerung

Tilmann Mehl
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    Deutschland im Sommer 2006.
    Deutschland im Sommer 2006. Foto: dpa

    Das Glas war nicht halb voll. Es war auch nicht halb leer. Im Sommer 2006 war jedes Glas komplett gefüllt. Wer es austrank, holte sich ein neues. Es ist dem Fußball zu verdanken, dass sich dieser einmonatige Rauschzustand als Sommermärchen ins kollektive Bewusstsein eingeprägt hat. Philipp Lahms Schlenzer gegen Costa Rica war das Fanal deutscher Ausgelassenheit. Am 9. Juni jährt sich der Auftaktsieg zum 15. Mal und wieder sind die Deutschen Gastgeber eines Fußballturniers, wenn sie auch bei der diesjährigen Europameisterschaft nur zu vier Spielen nach München einladen.

    Die Welt war 2006 zu Gast bei Freunden und die neue deutsche Leichtigkeit beeinflusste maßgeblich das Bild, das sich fortan von diesem großen Land in der Mitte Europas gemacht wurde. Heute scheint nichts mehr leicht. Nicht erst seit der Corona-Pandemie liegt auf dem Land eine Schwere, die sich auch anhand des Fußballs beschreiben lässt.

    WM 2006: Jürgen Klinsmann galt etlichen Fans als Scharlatan

    Dass die deutsche Nationalmannschaft vor der Haustür gegen Frankreich und Portugal antritt, ist vielen gleichgültig. Das Team wird nach den vergangenen Leistungen skeptisch beäugt. Aber ging nicht auch die 2006er Mannschaft wenige Monate vor der WM in Italien unter? Galt Jürgen Klinsmann nicht etlichen Fans als Scharlatan? Trotzdem trug ein Land Schwarz-Rot-Gold.

    WM 2006 in Deutschland: Jubelszene in Kempten nach einem Sieg der Nationalelf gegen Schweden 2:0.
    WM 2006 in Deutschland: Jubelszene in Kempten nach einem Sieg der Nationalelf gegen Schweden 2:0. Foto: Ralf Lienert

    Zu den deutschen Spielen dürfen diesmal 14.000 Fans kommen. Eine Tatsache, die Kritiker als Kniefall vor der Uefa empfinden. Mal wieder nehme der Fußball eine Sonderrolle ein. Möglicherweise aber ist nun einfach der Zeitpunkt gekommen, den Weg zurück in die Normalität einzuschlagen.

    EM 2021: Inzwischen muss die Mannschaft "edel" sein

    Die Deutschen sind ein skeptisches Volk. Immerhin kann man so nur schwer enttäuscht werden. Wer aber trotz der Machenschaften innerhalb der Fußballverbände den Partien mit den besten Spielern Europas entgegenfiebert, gilt schnell als Mensch mit allzu schlichtem Gemüt. 2006 war die Unterstützung des Teams noch nicht an Bedingungen geknüpft. Heute muss es edel, hilfreich und gut sein. Dabei muss der diesjährige Jahrgang den Vergleich mit den 2006ern nicht scheuen. Damals sang Xavier Naidoo den Song des Sommers („Dieser Weg“), Christoph Metzelder hielt die Abwehr zusammen und Jens Lehmann ein paar Elfmeter. Naidoo ist den Verschwörungstheoretikern anheimgefallen, Metzelder eines widerlichen Verbrechens schuldig gesprochen und Lehmann fiel mehrfach durch unterkomplexe und niederträchtige Wortmeldungen auf.

    Torhüter Jens Lehmann bei der WM 2006.
    Torhüter Jens Lehmann bei der WM 2006. Foto: Jan Woitas (dpa)

    Wenn sich aber Joshua Kimmich und Co. für Menschenrechte einsetzen und die Aktion von einem Kamerateam begleiten lassen, wird kritisiert, sie würden nur ihre Popularität steigern wollen.

    Fußball ist ein Sinnbild der deutschen Gesellschaft

    Natürlich sind aber die Profis größtenteils selbst dafür verantwortlich, dass ihnen nicht mehr voraussetzungsfrei zugejubelt wird. Schließlich sind sie es, die am meisten von den bösartigen Tumoren des Geschäftsfeldes Fußball profitieren.

    Die Fußball-Nationalmannschaft ist nicht mehr das viel beschworene Lagerfeuer, um das sich die Nation versammelt. Jeder Funke wird ausgetreten. Von den Spielern, Trainern und Funktionären. Und den ewigen Bedenkenträgern, die eine Glut für den Auslöser eines möglichen Schwelbrandes halten. Fußball aber kann auch reines Vergnügen sein. Vor 15 Jahren war er das. Seitdem haben die Deutschen eine Finanz- und Flüchtlingskrise bewältigt. Die Corona-Pandemie neigt sich hierzulande dem Ende entgegen. Statt Selbstbewusstsein und Stolz aber: Zweifel und gesellschaftliche Spaltung. Der Fußball ist dafür nur ein Sinnbild.

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