Vor 50 Jahren begeisterte die Fußball-WM in Mexiko. In vielerlei Hinsicht ein besonderes Turnier, das vor allem durch das „Spiel des Jahrhunderts“ im Halbfinale zwischen Deutschland und Italien in Erinnerung geblieben ist. Die gesamte WM 1970 lässt mit Wolfgang Overath, 76, einer der überragenden Hauptdarsteller der Endrunde Revue passieren. Im exklusiven Interview mit der Redaktions-Kooperation G14plus, der auch diese Zeitung angehört, erzählt er von den besonderen Bedingungen durch Hitze und Höhe, den Stärken des deutschen Teams und ordnet die Bedeutung der WM 1970 für seine Karriere ein.
Herr Overath, vor dem Rückblick die Aktualität: Wie ist es Ihnen während der Corona-Pandemie ergangen, ganz ohne Fußball?
Overath: Eigentlich gehe ich zweimal pro Woche zum Hallenfußball, dienstags in die Sportschule Hennef, donnerstags beim FC am Geißbockheim. Zusätzlich jogge ich samstags und sonntags. Aber dann war plötzlich Ende mit Fußball. Also jogge ich jetzt zusätzlich dienstags und donnerstags. Damit ich mein Gewicht halte und einigermaßen bei Kondition bleibe. Laufen ist für mich aber Quälerei, kostet Überwindung, gehört momentan jedoch dazu. Fußball ist Lebenselixier.
Wo liegt Ihr Kampfgewicht im Vergleich zur aktiven Zeit?
Overath: Damals hatte ich 71, 72 Kilo. Jetzt 70.
Was von der WM 1970 ist neben der Dramatik gegen England und Italien im Gedächtnis geblieben?
Overath: Mexiko 1970 habe ich als beste WM aller Zeiten in Erinnerung. Gerade von den Figuren war es vielleicht die größte WM. Da liefen noch Pelé und Bobby Charlton auf, die Italiener Roberto Boninsegna, Sandro Mazzola und "Gigi" Riva und wie sie alle hießen. Und bei uns Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Uwe Seeler. Es war wohl das letzte Mal, dass bei einer WM die ganz Großen in einer solchen Anzahl zusammenkamen. Von der Qualität der Spieler war es eine fantastische WM in toller Atmosphäre.
Die Engländer wurden älter, die Deutschen reifer
Welchen Stellenwert hat diese WM für Sie?
Overath: Obwohl wir 1974 Weltmeister wurden, was natürlich der herausragende Erfolg überhaupt für einen Fußballspieler ist: Meine beste WM habe ich jedoch in Mexiko gespielt. 1966 war ich als junger Kerl froh, mitspielen zu dürfen. Vor der Neuauflage des Endspiels von 1966 im Viertelfinale habe ich gesagt: Wir sind in vier Jahren reifer geworden, die Engländer älter. Dazu kam für mich das große Glück, als einziger deutscher Spieler 1966, 1970 und 1974, bei denen wir Zweiter, Dritter und Erster wurden, alle WM-Spiele absolviert zu haben.
19 Einsätze bedeuten Platz zwölf der ewigen Rangliste. 15 Siege Rang drei hinter Miroslav Klose (17, Anm. der Red.) und dem Brasilianer Cafu (16).
Das ist Wolfgang Overath
Geboren am 29. September 1943 in Siegburg als jüngstes von acht Kindern der Familie.
Mit der damaligen Schüler-Nationalmannschaft spielte Wolfgang Overath schon 1959 vor über 100.000 Zuschauern im Londoner Wembley-Stadion, das er sieben Jahre später beim legendären WM-Finale 1966 gegen England (2:4 nach Verlängerung) wiedersehen sollte.
Zuvor musste das Talent nach seinem Wechsel vom Siegburger SV 04 (1953–1962) zum 1. FC Köln eine einjährige Sperre absitzen, die damals ein Wechsel vom Amateur- zum Vertragsspieler automatisch nach sich zog. Bei der Bundesliga-Premiere am 24. August 1963 war Overath aber dabei und erzielte beim 1. FC Saarbrücken in der neuen Spielklasse das erste Tor der Kölner, die gleich deutscher Meister wurden.
Insgesamt kam er auf 409 Bundesliga-Spiele (83 Tore). Mit dem 1. FC Köln, dessen Präsident Overath später war (2004–2011), folgten die DFB-Pokalsiege 1968 und 1977.
Mit der Nationalmannschaft holte er nach der Vizeweltmeisterschaft 1966 bei der WM 1970 in Mexiko Platz drei und 1974 in Deutschland den WM-Titel durch den 2:1-Finalsieg gegen die Niederlande. Overath bestritt 81 Länderspiele (17 Tore) und war Nachfolger von Uwe Seeler als Kapitän des DFB-Teams.
Overath ist seit 57 Jahren mit Ehefrau Karin verheiratet, sie haben zwei Söhne und eine Adoptivtochter aus Brasilien.
Overath: Es war eine große Zeit, die ich in der Nationalmannschaft erleben durfte, wie auch im Verein seit dem Start der Bundesliga 1963. In Mexiko war das ganze WM-Turnier ein Highlight. Gegen England 3:2 in der Verlängerung nach 0:2. Dann das Jahrhundertspiel vor über 100.000 Zuschauern im riesigen Aztekenstadion in Mexico City. Wir hatten eine wirklich sehr gute Mannschaft: Mit Franz Beckenbauer, dem größten deutschen Fußballspieler aller Zeiten, mit dem mich auch heute noch eine enge Freundschaft verbindet. Und vorne Gerd Müller als WM-Torschützenkönig und Uwe Seeler, den Bundestrainer Helmut Schön zurückgezogen spielen ließ. Als Kapitän auch menschlich herausragend und Torschütze wie zum 2:2 gegen England mit dem Hinterkopf. Alle anderen Mitspieler könnte ich ebenso hervorheben.
Wie haben Sie das Halbfinale gegen Italien noch vor Augen?
Overath: Wir waren so nahe dran am Finale, auf Augenhöhe, im Pech, auch durch die Verletzung von Franz, der mit bandagiertem Arm durchhalten musste, weil wir nicht mehr wechseln durften. Wir bekamen richtig dumme Tore, vor allem das entscheidende 4:3 durch Rivera.
Bei Unentschieden hätte das Los entschieden, ohne Elfmeterschießen.
Overath: Das Los ist keine Lösung. Davon hatte ich seit dem Europapokal-Viertelfinale 1965 gegen Liverpool genug. Nach dem dritten Spiel mit Verlängerung in Rotterdam steckte die Münze beim ersten Wurf des Schiedsrichters ja auch noch senkrecht im Schlamm.
Wie war Helmut Schön als "Chef"?
Overath: Der "Lange" war ein super Trainer mit viel taktischem Wissen. Ein anständiger Kerl. Dass wir in acht Jahren Erster, Zweiter und Dritter wurden, war in erster Linie sein Verdienst. Oft wurde er falsch dargestellt als angeblich zu weich. Mit älteren Spielern hat er sich ausgetauscht, letzten Endes aber immer selbst entschieden. Und wenn er im Training mitspielte, konnten wir sehen, welch guter Fußballer er war. Der konnte mit der Kugel etwas anfangen. (Schön war Nationalspieler und Meisterspieler des Dresdner SC, Anm. der Red.)
Sein Vorgänger Sepp Herberger gab in Mexiko durchaus kritische Kommentare ab, monierte nach dem 2:1-Auftakt gegen Marokko etwa falsche Stollen. Und Ihr verletzter Konkurrent Günter Netzer war Bild-Kolumnist.
Overath: Günter hat sich mit uns über die Erfolge gefreut. Trotz aller Rivalität waren wir Freunde. Nach dem Spiel gegen Uruguay kam er auf das Zimmer, das ich mit Franz Beckenbauer teilte. Insgesamt habe ich mich immer hundert Prozent nur auf das Turnier konzentriert. Und mich auch nicht aufgeregt, wenn es hieß: Die werden kaserniert, ihre Frauen dürfen nicht dahin. Wir wohnten in einem schönen Hotel in Comanjilla. Daran, dass es dort mal Theater gab, kann ich mich nicht erinnern. Selbst als jemand statt der üblichen Adidas-Schuhe Puma ins Spiel bringen wollte, war das nur ein Thema am Rande.
Overath wäre beinahe beim FC Bayern München gelandet
Zum besten Mittelfeldspieler der WM gewählt, waren Sie bei Top-Klubs gefragt.
Overath: Ja, es gab eine Menge Angebote. Aber ich hatte Vertrag in Köln. Und der FC war ja immer meine Heimat. Daher war es kein Thema, die guten Leistungen anderswo für einen großen Vertrag zu nutzen.
1969 wären Sie fast beim FC Bayern München gelandet: Wenn Köln das Bundesliga-„Endspiel“ gegen Nürnberg nicht gewonnen hätte und abgestiegen wäre.
Overath: Möglicherweise wäre ich dann auch ein Stück weit in Europa unterwegs gewesen. Aber meine Frau war sehr heimatverbunden, unsere Kinder waren noch klein. Als ich beim FC aufgehört habe, schien ein Wechsel eher denkbar. Die Chicago Stings haben für drei Jahre so viel Geld geboten wie ich in Köln in 14 Jahren zusammen verdient hatte. Wenn ich es aus finanziellen Sorgen gemusst hätte, wäre meine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen. Aber ohne Familie wollte ich nicht in die USA gehen. Für meine Ehe wäre das wohl nicht gesund gewesen.
Vernunft besiegte Verlockung?
Overath: Nicht nur Vernunft, auch meine Mentalität als Rheinländer. In ein anderes Land zu wechseln, war nicht meine Welt. Für mein wunderbares Leben, durch Familie, Sport, Beruf und Gesundheit, bin ich sehr dankbar. Ich wusste immer, wo ich herkomme, wie schwer es meine Eltern hatten mit acht Kindern und mir als Jüngstem. Und ich weiß, wie gut es mir heute geht.
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