Herr Lames, die Bundesligisten hatten vor dem Re-Start des Spielbetriebs eine kurze Vorbereitung. Warum ist das für die Spieler ein Problem?
Martin Lames: Im athletischen Bereich konnten die Spieler in den vergangenen Wochen individuell gut trainieren. Im Kraft- und Ausdauerbereich dürften sie also in einem guten Zustand sein. Allerdings fehlt ihnen die Wettkampfsituation, die sich nur in Testspielen und speziellen Trainingsformen mit Kontakt simulieren lässt. Dass die Spiele nicht unbedingt auf höchstem Niveau stattfanden, überraschte mich nicht. Vor allem in der Schlussphase hat man bei manchen Mannschaften allerdings gemerkt, dass Kräfte schwanden, die Konzentration nachließ und sich Fehler häuften. Normalerweise bereiten sich Bundesligisten knapp zwei Monate auf eine Saison vor. Das hat Gründe.
Werden sich die Verletzungen in den kommenden Wochen häufen?
Lames: Auch wenn muskuläre Probleme regelmäßig auftreten, der Großteil der Verletzungen im Fußball entsteht im Zweikampf durch Gegnerkontakt. Wenn die Spieler an diese Belastung gewohnt sind und diese Situationen trainiert haben, werden sie sich seltener verletzen. Dafür bleibt ihnen allerdings derzeit wenig Zeit wegen des engen Zeitplans und der englischen Wochen.
Neben der körperlichen Verfassung spielt die Taktik eine wichtige Rolle. Auch dafür blieb wenig Zeit. Mit Heiko Herrlich und Bruno Labbadia haben Trainer sogar in der Corona-Pause eine Mannschaft übernommen.
Lames: Richtig. Individuelles Training kann immer nur die Basis sein. Im Mannschaftssport müssen Taktik und Abläufe verinnerlicht werden. Und zwar in der Gruppe. Dass dies nur bedingt und für kurze Zeit möglich war, erschwert die Arbeit eines Trainers ungemein.
Man gewinnt den Eindruck, dass die qualitativen Unterschiede in den Partien deutlicher zu Tage treten, weil äußere Einflüsse in den Hintergrund rücken.
Lames: Das stimmt. Bayern München, Dortmund oder Leverkusen haben gezeigt, wie sehr sie anderen Teams in einem leeren Stadion überlegen sein können. Ohne Publikum zählt vor allem die individuelle Stärke. Wenn Spieler einer Mannschaft intern auf Abstand gehen sollen und emotionale Nähe fehlt, aber vor allem wenn das antreibende Heimpublikum fehlt, haben Underdogs, die vom Teamgedanken und der Kampfkraft leben, einen schweren Stand. Ich denke, der Trend des ersten Corona-Spieltags wird sich in der Restsaison bestätigen. Ohne Zuschauer werden die Unterschiede zwischen Spitzenklubs und abstiegsgefährdeten Teams noch offensichtlicher.
Um die Belastung der Spieler in Grenzen zu halten, sind vorübergehend fünf Auswechslungen erlaubt. Eine sinnvolle Maßnahme?
Lames: Einerseits macht es natürlich Sinn, einen ermüdeten Spieler vom Feld zu nehmen. Das beugt schlimmeren Verletzungen vor. Andererseits sorgen Auswechslungen stets dafür, dass innerhalb eines Teams Ordnung und Spielrhythmus verloren gehen. Wer das Maximum von fünf Wechseln ausschöpft, der riskiert bei wenig Mannschaftstraining, dass Automatismen verloren gehen.
Sie beschäftigen sich an Ihrem Lehrstuhl mit Talentforschung. Dieser Tage wird allerdings weder in Vereinen noch an Schulen Sport getrieben. Wird sich das bemerkbar machen?
Lames: Dass es bislang kein Konzept gibt, wie der Sportunterricht an Schulen aussehen kann, kann für Kinder dramatische Folgen haben. Es gibt Entwicklungsstufen bei den Kindern, da sind spezielle sportliche Reize unentbehrlich für die motorische Entwicklung. Der Sportunterricht erfüllt dabei einen wichtigen Zweck. Ich traue unseren gut ausgebildeten Sportlehrern durchaus zu, die richtigen Konzepte für ihre Kinder in Corona-Zeiten zu entwickeln und umzusetzen. Sportlehrer sind ja mehr als Übungsleiter für viele Sportarten.
Was fehlt den Kindern, wenn sie nicht in der Schule oder im Verein Sport treiben?
Lames: Einerseits darf man nicht vergessen, dass der Sportunterricht für viele Kinder sogar die einzige Quelle von sportlichen Reizen ist. Im Alltag gibt es kaum noch intensive Bewegungsreize. Man sieht doch kaum noch Kinder, die sprinten, springen, einen Purzelbaum machen oder an einer Reckstange turnen. Deshalb sind die spezifischen Entwicklungsreize von Schule und Verein geradezu unersetzlich und hoffentlich nicht mehr lange durch Corona eingeschränkt.
Zur Person:Martin Lames leitet an der TU München den Lehrstuhl für Trainingswissenschaft und Sportinformatik. Der 61-Jährige ist in Wittlich (Rheinland-Pfalz) geboren und lebt im Augsburger Stadtteil Haunstetten. Von 2002 bis 2009 war der promovierte Hochschullehrer an der Uni Augsburg tätig.
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