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Interview: Rettig kritisiert FC Bayern: "Die Solidarität hat sich verschoben"

Interview

Rettig kritisiert FC Bayern: "Die Solidarität hat sich verschoben"

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    Andreas Rettig kritisiert das Verhalten des FC Bayern München und dessen Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge.
    Andreas Rettig kritisiert das Verhalten des FC Bayern München und dessen Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge. Foto: Christian Charisius, dpa

    Herr Rettig, haben Sie immer noch Lust auf Fußball?

    Andreas Rettig: Ja, aber mir fehlt zugegebenermaßen die früher an den Tag gelegte Leidenschaft und Begeisterung.

    Hinter dem Profi-Fußball liegt das vielleicht schwerste Jahr seiner jüngeren Geschichte, die Corona-Krise hat einerseits einige Klubs in Bedrängnis gebracht, andererseits aber auch die Misswirtschaft einiger Klubs schonungslos aufgedeckt. Wie haben Sie das Jahr erlebt?

    Rettig: Dieser schwarze Schwan namens Corona ist nicht nur für den Profi-Fußball ein Problem. Existenzelle Sorgen haben in erster Linie „angeschlagene“ Klubs, die bereits in der Vergangenheit nicht so wirtschaftlich vernünftig agiert haben wie beispielsweise der FC Augsburg oder der Vorzeigeclub SC Freiburg, der hier beispielgebend ist. Deswegen kann man mit Sicherheit nicht alles auf Corona zurückführen - auch wenn es in vielen Bereichen ans Eingemachte geht.

    Eine Studie der DFL besagt, dass sich viele junge Menschen nicht mehr für die Bundesliga interessieren. Hat sich der Fußball von seinem Publikum entfernt?

    Rettig: Die emotionale Entfremdung ist seit vielen Jahren durch verschiedene Dinge beschleunigt worden. Als Stichwort dienen goldene Steaks, eingeflogene Friseure, Steuerrazzien beim DFB, Korruption bei der Fifa, geschenkte Uhren, aufgeblähte und unsinnige Wettbewerbe die niemand versteht und braucht und, und, und.

    Bei aller Kritik an der Kommerzialisierung des Geschäfts treiben Verbände und Vereine die Anzahl der Spiele immer weiter nach oben, die Uefa führt sogar einen dritten Europacup ein und lässt Katar in einer europäischen Gruppe der WM-Quali antreten. Haben die Funktionäre nichts verstanden?

    Rettig: So scheint es. Besonders die aktuelle-Katar-Entscheidung der Uefa zeigt, dass sich mit Kapitaleinsatz Grenzen verschieben lassen. Ich freue mich jedenfalls bereits heute auf die Teilnahme von Rasenball Leipzig an der Copa Libertadores (Anmerkung der Redaktion: Die Copa Libertadores ist das südamerikanische Pendant zur europäischen Champions League).

    DFL-Aufsichtsratschef Peter Peters "liegt mit seinen Prognosen daneben"

    DFL-Aufsichtsratschef Peter Peters.
    DFL-Aufsichtsratschef Peter Peters. Foto: Andreas Gora, dpa

    DFL-Vorstandsmitglied Peter Peters hat in einem Gastbeitrag im Kicker unlängst ein positives Bild von der Liga gezeichnet - sowohl was Spannung, als auch Reformbereitschaft der Ligaverwaltung angehen. Auch eine Entfremdung der Fans könne er nicht sehen. Wie stehen Sie dazu?

    Rettig: Die Aussagen von Peter Peters verwundern sehr. Sie zeigen jedoch, welch selektive Wahrnehmung dort vorliegt und wie weit er sich vom Fan-Empfinden entfernt hat. Eine aktuelle Studie des Unternehmens FanQ widerspricht ihm im Übrigen in all seinen Thesen. So kommt die Mehrheit der Fans zum Ergebnis, dass es sehr wohl eine Entfremdung gibt. Über 60 Prozent der befragten Fans wünschen sich demnach Reformen und drei Viertel schätzen den Meisterschaftskampf als nicht spannend ein. Das steht im klaren Widerspruch zu den ausgeführten Thesen von Herr Peters. Wenn einer der maßgeblichen Vertreter der DFL in seinen Prognosen so daneben liegt, dann spricht dieses für sich.

    Durch Corona und die Geisterspiele droht eine weitere Entfremdung der Fans von ihren Vereinen. Wie gefährlich sehen Sie Geisterspiele?

    Rettig: Dadurch entsteht auch das Gefühl, es geht ohne Fans im Stadion. Und es kommt in erster Linie auf die Sicherung der Medienerlöse im TV an. Mir persönlich ist ein ausverkauftes Millerntor lieber als millionenfache Zuseher in China zu Zeiten, zu denen normalerweise niemand ins Stadion geht.

    Karl-Heinz Rummenigge.
    Karl-Heinz Rummenigge. Foto: Arne Dedert, dpa

    "Rummenigge hat das Grundgesetz und die Bibel zitiert - jetzt kann nicht mehr viel kommen"

    Ein großer Kritikpunkt vieler Fan-Organisationen ist die Verteilung der TV-Gelder innerhalb der Bundesliga. Vier Erstligisten - der FC Augsburg, Mainz, Bielefeld und Stuttgart - probten den Aufstand und wurden dafür von Bayern-Vorstandschef Rummenigge abgekanzelt. Wie haben Sie das erlebt?

    Rettig: Dass Vereinsvertreter, die sich Gedanken um eine solidarischere Verteilung der Medienerlöse machen, öffentlichkeitswirksam vom Branchenprimus wie Schuljungen abgewatscht werden ist ein nur schwer nachvollziehbarer Vorgang. Er zeigt jedoch das Selbstverständnis, das dieser Klub an den Tag legt. Karl-Heinz Rummenigge hat vor nicht allzu langer Zeit bereits Artikel 1 des Grundgesetzes öffentlich bemüht, dann im Rahmen der jetzt aktuellen TV-Verteilung Bezug genommen auf die Bibel mit einem Saulus-und-Paulus-Vergleich. Jetzt kann zum Glück nicht mehr viel kommen (lacht).

    Haben der FC Bayern und Karl-Heinz Rummenigge sich nicht nur sportlich, sondern auch gedanklich vom Rest der Liga entfremdet? Das, was der FC Bayern als solidarisch empfindet, sehen andere als kaum als Krümel an, die man den kleineren Klubs übrig lässt.

    Rettig: Der Begriff der Solidarität hat sich für den FC Bayern verschoben. Waren sie früher solidarisch mit den Vereinen der Bundesliga, sind sie es jetzt mit dem internationalen Klubs der Top-Vier-Nationen, wie man an der Diskussion um eine Super League erkennen kann.

    Wie lähmend empfinden Sie die Dominanz des FC Bayern in der Bundesliga?

    Rettig: Die Vorhersehbarkeit von Ergebnissen ist leider weiterhin zu hoch.

    Vor kurzem wurde der Verteilerschlüssel der TV-Einnahmen neu verteilt. Gravierende Änderungen sind es nicht gewesen. Wie wichtig wäre es, dass die Gelder deutlich anders verteilt werden?

    Rettig: Es würde mittelfristig zu einer größeren Ausgeglichenheit in der Liga führen und somit die Spannung erhöhen. Geld schießt Tore, das ist mittlerweile wissenschaftlich belegt. Schließlich würde es die Werthaltigkeit der Medienerlöse steigern.

    Die großen Klubs werten die aktuelle Verteilung als Entgegenkommen…

    Rettig: Das kann ich beim besten Willen nicht erkennen. In den Jahren drei und vier des Verteilerbeschlusses sind wir nahezu auf dem heutigen Niveau.

    Was muss sich ändern, damit der Fußball wieder näher an den Fans ist?

    Rettig: Klubs und Verbände müssen bodenständiger und nahbarer werden. Auch eine Veränderung der DNA des Profifußballs hin zu mehr Nachhaltigkeit wäre das richtige Zeichen.

    Viele Fans - wie hier in Stuttgart - üben Kritik an der ungleichen Verteilung der TV-Gelder.
    Viele Fans - wie hier in Stuttgart - üben Kritik an der ungleichen Verteilung der TV-Gelder. Foto: Witters

    Wie meinen Sie das?

    Rettig: Beispielsweise beim jüngsten Verteilerbeschluss: Hier fehlt mir ein Impuls. Man hätte eine zusätzliche Säule einführen können, die auf Nachhaltigkeit abhebt. Das heißt: Wer hier in besonderem Maße gesellschaftlichen Nutzen stiftet, wird dafür belohnt. Wir dürfen Ökonomie und Ökologie nicht gegeneinander ausspielen, aber sie sollten gleichberechtigt verfolgt werden.

    Haben Sie auch Sorgen vor halbleeren Stadien, wenn eines Tages wieder Zuschauer zugelassen sind, weil die Distanz der Fans zum Spiel immer größer wird?

    Rettig: Ich hoffe dass, nachdem die Angst vor Ansteckung gewichen ist, die Stadien auch wieder voll werden. Aber das wird sicherlich nicht von heute auf morgen gehen.

    Wie sehen Sie die Entwicklung des FC Augsburg? Die Ansprüche sind im zehnten Jahr erste Liga mittlerweile andere als beim Bundesligaaufstieg.

    Rettig: Die Entwicklung ist großartig und hat etwas mit Kompetenz und Kontinuität der Vereinsführung zu tun. Auch wenn die Erwartungshaltung heute eine andere ist als vor zehn Jahren: Ich jedenfalls erinnere mich noch gut an das Spiel im alten Rosenaustadion gegen Carl Zeiss Jena am letzten Spieltag der zweiten Liga, als wir den Abstieg in die 3. Liga nur knapp verhindert haben.

    Leon Goretzka engagiert sich politisch.
    Leon Goretzka engagiert sich politisch. Foto: Marco Donato, dpa

    Leon Goretzka vom FC Bayern ist ein Gewinn: "Man kann ihm nur gratulieren"

    Leon Goretzka vom FC Bayern ist einer der wenigen Spieler, die sich sowohl gesellschaftlich engagieren als auch politisch Stellung beziehen. Wie wichtig sind Typen wie er für das arg angeschlagene Image der Fußball-Branche?

    Rettig: Man kann Leon Goretzka nur gratulieren. Eine Branche, die mit und durch die Öffentlichkeit ihr Geld verdient, braucht gesellschaftliche Akzeptanz. Deshalb muss der Fußball seine Reichweite dazu nutzen, um die schwindende gesellschaftliche Akzeptanz zu erhalten. Es geht eben nicht nur um Umsatzmaximierung und den vielzitieren Return on Investment. Im Fußball ist die emotionale Rendite von Fans, Mitgliedern und Partnern das alles Entscheidende.

    Was wünschen Sie sich für das Jahr 2021 - sowohl in sportlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht?

    Rettig: Dass nahezu alles besser wird als im Vorjahr.

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