Mit 18 kickten Sie noch in der A-Jugend eines Landesligisten, mit 26 sind Sie Stammspieler bei einem Champions-League-Teilnehmer, haben einen Marktwert von 28 Millionen Euro. Es gibt keinen aktuellen Nationalspieler, der auf einen Werdegang wie den Ihren verweisen kann. Gibt es Tage, an denen Sie das selbst alles nicht glauben können?
Robin Gosens: Ja, mein Weg ist echt schon sehr ungewöhnlich. Heutzutage ist es eher unüblich, es ohne ein Nachwuchsleistungszentrum in eine professionelle Mannschaft zu schaffen. Dass ich heute in der Champions League und in der Nationalmannschaft spiele – das hätte ich niemals zu träumen gehofft. Von daher: Ich genieße das alles sehr, aber richtig realisieren kann ich das gerade nicht wirklich. Ich glaube, das wird erst nach der Karriere kommen, wenn ich mit etwas Abstand draufschauen kann. Und dann wird, glaube ich, auch die Erkenntnis kommen: Das, was du da gemacht hast – das war Wahnsinn.
Sie waren nie in einem Nachwuchsleistungszentrum, bei einem Probetraining beim BVB sind Sie durchgefallen. Ist das vielleicht ein Vorteil für Sie gewesen?
Gosens: Aus menschlicher Sicht ist das auf alle Fälle so. Ich kenne die andere Seite und habe an der Tankstelle für fünf Euro die Stunde gearbeitet. Ich habe Bewerbungen geschrieben, um mich auf das "normale Leben" vorzubereiten. In den Profi-Zirkus bin ich dann mehr oder weniger zufällig reingerutscht. Dieser Hintergrund tut mir, glaube ich, sehr gut. Ich habe nie diesen egoistischen Blick auf die Fußballwelt entwickelt, der für Jungs in einem Nachwuchsleistungszentrum völlig normal ist. Die müssen dieses Denken ja entwickeln, um sich gegen alle durchzusetzen. Ich bin einfach dazu gekommen und genieße jetzt jede Sekunde. Deswegen bin ich auch viel mehr Teamplayer als manche anderen, die gleich sauer sind, wenn sie mal nicht spielen. Sportlich gesehen war das aber sicher nicht von Vorteil, dass ich bis zu meinem 18. Lebensjahr eigentlich nur Trainingsspiel und Abschluss kannte – mit Taktik, Technik oder Koordination hatte ich nie was am Hut. Das sieht man auch heute noch, obwohl ich viel an mir gearbeitet habe.
Andererseits sind Sie, wie schon im Vorjahr, der torgefährlichste Abwehrspieler in einer europäischen Top-Liga: Neun Tore, fünf Vorlagen. Das ist eine Quote, die mancher Stürmer auch gerne hätte.
Gosens: Ja, das ist einfach gigantisch – vor allem, dass es zum zweiten Mal in Folge nun schon so ist. Ich bin echt stolz auf diese Konstanz. Seitdem ich diese Chance im Profi-Fußball bekommen habe, lebe ich einen Traum, den viele Jungs haben, und für den ich hart arbeite. Das klingt jetzt vielleicht abgedroschen, aber ich bin wirklich nie mit mir zufrieden.
Manchmal fremdeln Sie immer noch mit den Verhaltensregeln im Profi-Fußball – zum Beispiel, als Sie vor zwei Jahren nach einer Feier mit ihren Kumpels ein Straßenschild in ihr Hotelzimmer gestellt und das auf Instagram dokumentiert haben. Hört sich so an: Du kriegst den Kicker aus dem Dorf, aber niemals das Dorf aus dem Kicker.
Gosens: Ja, wahrscheinlich! Wenn ich das heute nochmal machen würde, würde ich die Videos dazu jedenfalls nicht mehr auf Instagram hochladen! (lacht). Die letzten beiden Jahre waren für mich so krass, weil einfach so viel passiert ist. Ich bin viel bekannter geworden, mich haben in Deutschland jetzt viel mehr Leute auf dem Schirm. Das ist schön, aber die Kehrseite ist, dass die Privatsphäre ein wenig verloren geht. Ich bin aber jemand, der sich nie verstellt. Diese Jungs-Touren, bei denen man einfach mal Mist baut, kennt doch jeder. Diesen Quatsch zu machen – das liebe ich, das gehört dazu und das brauche ich auch als Ausgleich. Ich bin mir aber bewusst, dass es in der Form nicht mehr geht. Das Video, das damals entstanden ist – da hatte ich nicht weiter drüber nachgedacht. Ich hatte das gar nicht im Blick, was daraus entstehen kann. Das war mir eine Lehre.
Wie sehr hätten Sie es sich gewünscht, dass Thomas Müller wieder eine Einladung für die Nationalmannschaft bekommen hätte? In ihrem Buch schreiben Sie, dass sein Trikot während der Liga-Pause in Italien bei ihnen im Wohnzimmer hing, um Sie zu motivieren.
Gosens: Wenn ich ihn bei der Nationalmannschaft getroffen hätte, hätte ich auf alle Fälle das Gespräch mit ihm gesucht. Im Prinzip hat er nichts getan, aber Thomas Müller war ein großer Motivator für mich. Dieses Trikot hat mir sehr durch die schwere Zeit geholfen. Ich habe mir gedacht: Ok, Junge. Wenn das alles wieder losgeht, musst du dafür sorgen, dass du in die Nationalmannschaft kommst, wenn du schon mal so dicht dran bist. Das würde ich ihm schon ganz gerne sagen wollen.
Wie sehr hat Sie der Rücktritt von Bundestrainer Joachim Löw überrascht?
Gosens: Sehr. Wir sind als Nationalmannschaft zuletzt zwar nicht sonderlich gut weggekommen. Trotzdem hat er Großes für dieses Team bewirkt. Beim WM-Titel stand ich als Fan auf der Fanmeile, und er war der Trainer, der mich zum Nationalspieler gemacht hat. Er hat mir den größten Traum, den es überhaupt gibt, erfüllt. Deswegen bin ich ihm ewig dankbar. Und wenn dieser Mensch dann aufhört, dann schockt einen das erstmal. Er ist ein sehr empathischer Mensch und weiß, wie er jeden Spieler behandeln muss.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Berufskollegen sind Sie ein Mann der klaren Worte und schreiben, dass Sie gar nicht allzu traurig waren, das 0:6 gegen Spanien verletzungsbedingt verpasst zu haben. Solche Worte sind authentisch, aber befürchten Sie nicht, dass Ihnen so etwas mal auf die Füße fällt?
Gosens: Gut möglich. Es gibt ja noch andere Stellen im Buch, in denen ich kein Blatt vor den Mund nehme und die meine Sichtweise darstellen sollen. Dieses Spanien-Spiel verpasst zu haben, war trotzdem kein Grund zur Freude, weil ich verletzt war. Das ist immer Scheiße für einen Fußballer. Und ich male mir auch nicht aus, dass wir mit mir 5:1 gewonnen hätten. Ich weiß, wie katastrophal das ist, wenn du so hoch verlierst. Wenn man als deutsche Nationalmannschaft 0:6 verliert, dann muss man sich eingestehen, dass man komplett versagt hat. Ich habe mit den Jungs gefühlt.
Bergamo war wie nur wenige andere Städte vom Ausbruch der Corona-Pandemie betroffen. Wie haben Sie diese schwere Zeit erlebt und verarbeitet?
Gosens: Das war eine Zeit, die mich bis zum Ende meines Lebens prägen wird. Und die mir immer wieder vor Augen halten wird, wie gut es mir geht. Wenn ich heute am Meckern bin, dann kommen mir automatisch wieder diese Bilder in den Kopf, was damals in Bergamo gewesen ist. Und dann denke ich mir: Hey, Robin! Über was regst du dich denn gerade auf? Das, was ich damals gesehen habe, das waren wirkliche Probleme. Das vergisst du nie wieder.
Welche Gefühle steigen dann in Ihnen hoch, wenn Sie Bilder von Corona-Leugnern sehen, die in einer Polonaise und ohne Masken auf dem Münchner Marienplatz tanzen?
Gosens: Das ist völlig Banane, einfach pure Dummheit. Ich werde deren Gedankengänge nie verstehen. Es sind Menschen im Stundentakt gestorben und diese Leute versuchen, das Virus kleinzureden. Denen ist nicht mehr zu helfen. Ich habe vielleicht nochmal einen anderen Blick darauf, weil ich in diesem Hotspot war und diese schlimmen Bilder im Kopf habe: die Sirenen, die tagtäglich bei uns zu hören waren, all das Leid der Menschen.
An einem ihrer wichtigsten Mitspieler bei Atalanta, Josip Ilicic, ist die Corona-Pandemie nicht spurlos vorüber gegangen. Er infizierte sich selbst mit dem Virus, erkrankte danach an einer Depression und fiel deswegen für den Rest der Saison aus. Wie haben Sie das erlebt?
Gosens: Das war für uns als Mannschaft sehr intensiv. Und da wird einem bewusst, dass Sport nicht das Wichtigste ist. Wir haben versucht, ihn so gut es ging aufzufangen. Wir wollten ihm das Gefühl geben, dass er sich bei uns geborgen fühlen darf. Und dass es im Kreis der Mannschaft keinen Grund gibt, traurig zu sein.
Aber es hat nicht geklappt.
Gosens: Nein, leider nicht. Jeder Mensch geht mit so einer Krise anders um und jeder braucht seine Zeit, um das zu überwinden. Wir konnten ihm nur das Gefühl geben, dass wir für ihn da sind. Das alles hat uns auch nochmal deutlich gemacht, wie intensiv diese Zeit gewesen ist.
Ilicic war auch nicht irgendein Spieler für Atalanta. Im Champions-League-Spiel gegen Valencia schoss er alle vier Tore beim 4:3-Sieg. Trotzdem stand Bergamo gegen Paris kurz vor der Sensation, führte bis kurz vor Schluss und verlor das Spiel dennoch. Wie sehr schmerzt es Sie, dass dieses Märchen nicht wahr wurde?
Gosens: Auch, wenn ich jetzt drüber nachdenke, bekomme ich noch eine Gänsehaut. Das war so bitter. Wir haben alles reingeworfen, aber uns gingen einfach die Körner aus. Das ist normal bei dem Aufwand, den wir betrieben haben. Wenn wir einfach nur 0:3 verloren hätten. Aber wir bekommen in der letzten Sekunde dieses blöde zweite Gegentor und sind raus. Das tat unglaublich weh und hat wirklich lange gedauert, bis ich da drüber hinweg war.
2019 ist ein Wechsel zum FC Schalke an der Ablöseforderung Bergamos gescheitert, Sie waren danach einige Wochen enttäuscht.
Gosens: Als das damals nicht geklappt hat, war ich schon niedergeschmettert. Es war nicht nur die Bundesliga, nicht nur der Verein, von dem ich immer geträumt habe. Es war auch die Nähe zur Familie. Ich habe bis jetzt nur im Ausland gespielt und habe die Chance gesehen, 40 Minuten von meinem Elternhaus entfernt wieder wohnen zu dürfen. Das Gesamtpaket hat so gestimmt, dass ich mir gesagt habe: Junge, das muss irgendwie klappen. Ich hab mich da richtig reingesteigert und auch versteift und hab dafür die Quittung bekommen. Die Enttäuschung im Nachhinein war zu groß, daran hatte ich echt zu knabbern. Man darf sich eben erst sicher sein, wenn die Tinte trocken ist.
Wie froh sind Sie angesichts der Katastrophen-Saison Schalkes im Nachhinein, dass der Wechsel nicht geklappt hat?
Gosens: Im Nachhinein kann man sagen, dass alles wieder so gekommen ist, wie es kommen musste. Anstatt wahrscheinlich in die 2. Liga abzusteigen, bin ich jetzt Nationalspieler und spiele regelmäßig Champions League.
Wäre das mit Ihnen auf Schalke anders geworden?
Gosens: Aufgrund meiner emotionalen Verbindung zu Schalke hätte ich bestimmt den ein oder anderen mitreißen können. Aber klar: Selbst Robert Lewandowski kann alleine nichts ausrichten, sondern braucht ein vernünftiges Gefüge um sich herum. Ich male mir nicht aus, dass ich alleine den Klassenerhalt geschafft hätte. Aber ich hätte auf emotionaler Ebene was bewirken können.
Klappt das noch mit Ihnen und Schalke?
Gosen: Das wird immer ein Traum von mir bleiben. Jetzt hoffe ich, dass dieser Verein diese unfassbar große Krise überlebt, bei der es gefühlt jede Woche einen neuen Tiefpunkt gibt. Sportlich würde es gerade keinen Sinn machen und ich würde jetzt nicht dorthin wechseln, weil ich damit meine Karriere killen würde. Aber wenn Schalke mich anrufen würde und mich holen wollte, würde ich tagelang nicht schlafen können.
Sie studieren Psychologie und beschäftigen sich viel mit dem Thema Druck im Fußball. In einer Szene beschreiben Sie, wie Ihr Trainer Gian Carlo Gasperini Sie vor versammelter Mannschaft anschreit. Später sagen Sie, dass Sie dieser Druck auch stärker gemacht hat. Gehören solche Szenen zum Profi-Fußball nicht auch dazu?
Gosens: Gasperini ist mein größter Förderer, von dem ich am meisten gelernt habe. Sein Coaching hat mich zu dem Spieler gemacht, der ich heute bin. Ich bin dadurch sehr stark geworden und manche brauchen diese Ansprache vielleicht auch. Andere zerbrechen vielleicht daran. Bei Gasperini gibt es nur diesen Weg: Entweder du hältst das durch oder zerbrichst daran. Das ist sein Weg als Trainer, seine Entscheidung. Und damit hat er viele Spieler richtig groß gemacht.
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