Früher, als die Mittelschule noch Volksschule hieß und der Lernstoff im Gymnasium noch nicht auf G-8-Format verdichtet war, blieb den Schülern mehr Zeit, den wichtigen Fragen des Lebens nachzugehen. Jener nach dem Sinn des Daseins, dem hübschesten Mädchen der Parallelklasse und dem besten Fußballer auf diesem Planeten.
Letzteres vor allem trieb die Fußballkönige der Hinterhöfe um, die von Bruchrechnen keine Ahnung hatten, weil sie täglich stundenlang gegen Garagentore ballerten. In Mathestunden schrieben sie Listen mit den besten Kickern der Welt. Immer vorne dabei: Franz Beckenbauer. Das verlangte allein der Patriotismus. Davon abgesehen, bewegte keiner den Ball so elegant wie er. Hätte es unter den Volksschülern im Land eine B-Wertung für den künstlerischen Ausdruck gegeben, die Pole-Position wäre des Kaisers gewesen.
Wer Laster und Müßiggang verehrte, setzte den genialen Waliser George Best („Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben. Den Rest habe ich einfach verprasst“) auf den Spitzenplatz. Wohnwagen-Urlauber den Holländer Johan Cruyff. Jeder hatte seine Berechtigung, oben zu stehen. Trotzdem waren das alles nur Außenseiter-Vorschläge, um die Diskussion anzuheizen. Der Platz des besten Fußballers auf dem Planeten war vergeben. An einen, den keiner der pubertären Diskutanten je selbst hatte spielen sehen. Natürlich, es gab Fotos. Es gab die Erzählungen der Alten. Sogar Filmschnipsel. Sie zeigten einen jungen Brasilianer, dem der Ball folgt wie ein Hund. Dem er offenbar alle Zuneigung entlocken konnte, die sich ein Mensch von einer eigensinnigen Kugel erhoffen darf.
Pelé- ein Frühvollendeter
Augenzeugen berichten von jenem Zauberstück, bei dem der junge Brasilianer den Ball durch den Strafraum jongliert, ihn nacheinander über drei Gegenspieler hebt, ehe er ihn mit dem Kopf ins Netz bugsiert. Pelé nannte die Welt diesen Frühvollendeten. 1958 war er der jüngste Spieler, der bis dahin an einer WM teilgenommen hatte.
Bis heute war kein Weltmeister jünger. Dreimal (1958, 1962 und 1970) führte Pelé die Seleção, die brasilianische Nationalmannschaft, zum Titel. 18 Jahre hat er für den FC Santos gespielt, 1091 Tore erzielt. In 92 Spielen für die Seleção ebenso staunenswerte 77 Mal getroffen. Über Pelé hat Italiens Verteidiger Tarcisio Burgnich nach dem verlorenen WM-Finale 1970 offenbart: „Vor dem Endspiel sagte ich zu mir: Pelé ist aus Fleisch und Knochen, so wie ich. Danach erkannte ich, dass ich unrecht hatte.“
Der Brasilianer, da war sich Burgnich mit den deutschen Hinterhöfen einig, war der Beste. Nicht greifbar für kantige Abwehrrecken. Ein schaumgeborenes Phänomen. Bürgerlich: Edson Arantes do Nascimento. Ein Name aus 1001 Fuballnacht. Wie aus Edson Arantes der weltberühmte „Pelé“ wurde, ist nicht mehr genau zu klären. In seiner Autobiografie erzählt Pelé, als Jugendlicher für „Bilé“, den Torhüter von Vasco São Lourenço, geschwärmt zu haben. Daraus habe sich „Pilé“ und dann, zum Leidwesen des Jungen, „Pelé“ entwickelt. „Ich hasste diesen verdammten Spitznamen. Es war nicht einmal ein richtiges Wort. Es bedeutete nichts“, schreibt Pelé.
Pelé stammt aus armen Verhältnissen
Dass der Mann mit der Nummer 10 auf dem Rücken, die im Fußball äußeres Zeichen der Ballstreichler und Strategen ist, zum Volkshelden aufstieg, ist auch seiner einfachen Herkunft geschuldet. Das Jahrhunderttalent ist am 23. Oktober 1940 in Três Corações im Bundesstaat Minas Gerais geboren. Die Familie lebte von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck, die Pelés kickender Vater unregelmäßig von seinen Fußballer-Engagements nach Hause brachte. Pelé: „Meine Geschwister und ich trugen gebrauchte Kleidung, die manchmal auch aus Getreidesäcken genäht war. Für Schuhe reichte das Geld nicht.“ Oft war das Essen knapp.
Als Edson sieben war, zog er mit einem Schuhputzset los. Später arbeitete er in einer Schuhfabrik und verkaufte Teigtaschen. Sein Leben aber gehörte schon lange dem Fußball. „Sete de Setembro“ hieß seine Straßenmannschaft, deren Spielbälle aus zusammengebundenen Socken bestanden. Zur Schule ging Pelé nur sporadisch. Später, als er in der Begegnung mit den Großen der Welt unter seiner schmalen Bildung litt, hat er noch den Oberschul-Abschluss nachgeholt. In den Goldenen 1950ern und 1960ern trugen die Brasilianer „König Pelé“ auf Händen.
Der König nutzte seine Popularität. Die Fußball-Ikone wandelte sich zur Weltmarke. Wirtschaft und Politik hielten ihm die Türen offen. Er gründete eine Sportmarketing- Agentur, warb für American Express, Pepsi und Viagra. Von 1995 bis 1998 war er Brasiliens Sportminister. Der Rollenwechsel aber ist ihm nicht bekommen.
Die Liebe der Brasilianer zu Pelé ist abgekühlt
„Pelé – Verräter“ stand auf den Plakaten der Protestbewegung, die vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 durch Brasilien schwappte. Die Liebe zum Übervater ist abgekühlt. Pelé ist zu einem Symbol jenes Fußballs geworden, der heute eher die Menschen erschreckt. Eine Maschine ohne Herz – getrieben von TV-Verträgen, begleitet von Korruptionsskandalen.
Als Pelé vor ein paar Monaten ins Krankenhaus musste und die Ärzte sich wegen seines Gesundheitszustandes ernste Sorgen machten, nahm die brasilianische Öffentlichkeit zwar interessiert, aber auch distanziert Notiz davon. Keine Kerzen vor der Klinik wie nach dem Ski-Unfall von Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher oder beim Überlebenskampf des kokainsüchtigen Diego Maradona in Buenos Aires vor ein paar Jahren. Brasilien bangte, aber es verlor nicht die Fassung. Pelé war ja längst in andere Sphären enteilt. Er ist nicht mehr der bodenständige Klubfußballer, der seinem Heimatverein, den FC Santos, aus der Hafenstadt nahe São Paulo fast ein Fußballerleben lang die Treue hielt, ehe er zum Operettenklub Cosmos New York wechselte, wo er in einer Mannschaft mit Franz Beckenbauer seine Karriere ausklingen ließ.
Bei allem, was Pelé den Brasilianern bedeutete – die Herzen der Menschen im fünftgrößten Land der Erde gehörten immer mehr einem anderen Weggefährten Pelés. Mané Garrincha, sein kongenialer Partner auf dem Feld, der nie lesen und schreiben gelernt hat und 50-jährig als Alkoholiker starb. Pelé war schon damals einfach eine Spur perfekter. Heute reden die Menschen in den Bars und Kneipen in Rio de Janeiro und São Paulo mit glänzenden Augen über den Dribbelkünstler Garrincha. Für Pelé ist eine seltsame Mischung aus Respekt, Bewunderung, aber auch kühler Distanz geblieben. Pelé ist kein Menschenrechtsaktivist, kein Kämpfer gegen die soziale Ungerechtigkeit in Brasilien, kein Mann des Volkes, der sich für die Gleichberechtigung der immer noch unterdrückten schwarzen Bevölkerung einsetzt – es sei denn, eine Großbank bezahlt ihn fürstlich für einen Spot. So wie bei der Copa América in Chile, wo Pelé mal wieder in einer Favela, einem Armenviertel, auftauchte. Ein Muhammad Ali, der seine Karriere riskierte, um sich gegen die weißen Eliten aufzulehnen, ist Pelé nie gewesen. Als die Brasilianer ihre Mächtigen wegen der ausufernden Kosten der WM attackierten, stand Pelé auf der anderen Seite.
Pelé ist nahezu perfekt
Heute nimmt ihn die brasilianische Öffentlichkeit vor allem als einen Gewinner der Großevents WM 2014 und Olympia 2016 wahr. Für Interviews lässt er sich inzwischen bezahlen; auf rund 100 Millionen Euro schätzen Experten seine Werbeeinnahmen aus der Vermarktung der beiden Ereignisse. Sie trüben offenbar seinen Blick für die Probleme des Landes, das inzwischen in eine handfeste politische und wirtschaftliche Krise geschlittert ist. Pelé hat dazu keine Meinung.
Auch das ist ein Grund, warum ihn die Menschen unter dem Zuckerhut nicht lieben wie den verunglückten Formel-1-Weltmeister Ayrton Senna oder Spielmacher-Legende Sócrates, der zwar nie Weltmeister wurde, aber zu Lebzeiten auf dem Spielfeld mit kleinen Gesten seine Abneigung gegenüber der Militärdiktatur zeigte, ehe auch er seiner Alkoholsucht zum Opfer fiel. Pelé dagegen war und ist bis heute nahezu perfekt – wenn man vom unübersichtlichen Beziehungs- und Familienleben des Seniors absieht. Pelé hat sieben Kinder von mehreren Frauen. Zweimal war er verheiratet. Sohn Edson hatte es zum Torhüter des FC Santos gebracht. Der 45-Jährige ist aber inzwischen wegen Geldwäsche und Drogengeschäften zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Senior liefert derweil seine Show wie ein Entertainer ab, wenn Luxusuhren-Hersteller an der Copacabana ins VIP-Zelt einladen. Überliefert ist von Pelé ein Spruch, der ihn kennzeichnet wie kein anderer: „Arm, reich, hässlich oder schön, für Gott sind alle Menschen gleich. Warum er ausgerechnet mir diese Gabe geschenkt hat, weiß ich nicht. Michelangelo hat gemalt, Beethoven Klavier gespielt und ich Fußball.“
Die Frage nach dem besten Fußballer unter den vielen Milliarden, die in der Geschichte der Menschheit je gegen einen Mammutknochen, einen Ball oder eine Bierdose getreten haben, bleibt. Pelé sind über die Jahre fantastische Konkurrenten erwachsen. Maradona, Zidane, Ronaldo, Messi, Cristiano Ronaldo. Jeder im Kontext seiner Zeit ein bester Fußballer der Welt. Sie alle aber müssen sich noch immer an Edson Arantes do Nascimento messen lassen, dem zweifellos ersten, besten Spieler der Welt. Morgen wird er 75. Felicitações, Pelé!