Die Kulisse war großartig. Die meisten der 20000 Zuschauer, die gestern das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee in Garmisch-Partenkirchen beobachteten, wedelten euphorisiert mit kleinen Deutschland-Fähnchen, die an den Eingängen kostenlos verteilt worden waren. Die Glühweinstände erfreuten sich größter Beliebtheit. Vom eisblauen Himmel strahlte die Sonne auf verschneite Berge.
Da störte es nicht sonderlich, dass die Lokalmatadoren nichts mit dem Sieg zu tun hatten. Den holte sich der Norweger Anders Jacobsen vor Simon Ammann (Schweiz) und Peter Prevc (Slowenien). Richard Freitag als bester Deutscher wurde Neunter, gefolgt von seinen Mannschaftskollegen Severin Freund (10.) und Marinus Kraus (13.).
Es sind die kleinen Fehler, die in der komplexen Sportart Skispringen den Unterschied ausmachen. Fehler, die kaum zu sehen sind. Fehler aber, die die Top-Leute nicht machen.
Severin Freund zum Beispiel, der einst als Kandidat für den Gesamtsieg gegolten hatte, verpatzte einmal mehr den Absprung. In Oberstdorf hatte er sich noch um Sekundenbruchteile zu spät vom Schanzentisch abgestoßen, die Kraft ging ins Leere. Gestern wollte er es besser machen – und setzte den Impuls zu früh.
Beide Varianten haben eines gemeinsam: sie kosten Weite. Da nutzte es auch nichts, dass Freund, ebenso wie Freitag, einen deutlich besseren zweiten Sprung zeigte.
Skispringen: Die großen Geschichten schreiben andere
Die großen Geschichten schreiben andere. Simon Ammann zum Beispiel. Der hatte sich beim Auftaktspringen in Oberstdorf nicht mit kleinen Fehler aufgehalten, sondern war schwer gestürzt. Damit hatte er sich um alle Chancen in der Gesamtwertung gebracht. Geplatzt der Traum vom ersehnten ersten Tourneesieg für den viermaligen Olympiasieger. Die Enttäuschung darüber ließ er sich gestern nicht mehr anmerken. Ganz im Gegenteil. Ammann kehrte triumphal zurück und wurde Zweiter. „Ich habe mir einfach gesagt: Bei der Tournee bleibt dir offenbar nichts erspart. Jetzt mach einfach das Beste daraus.“
Besser war nur einer, mit dem überhaupt niemand gerechnet hatte: Anders Jacobsen. Nach einem Kreuzbandriss im Jahr 2013 hatte der 29-Jährige erst spät und über den Umweg einer internen Ausscheidung den Weg in das norwegische Weltcup-Team gefunden.
Beim Neujahrsspringen düpierte er die Konkurrenz in seinem gewohnt aggressiven Stil. Explosiv am Schanzentisch, kompromisslos im Flug, artistisch bei der Landung. „Ich bin selbst ein bisschen von mir überrascht“, sagte Jacobsen nach seinem Sieg. „Das ist wie ein Traum. Ich habe an die Schanze hier tolle Erinnerungen, jetzt ist eine weitere dazu gekommen.“
In der Gesamtwertung machte der Norweger ebenfalls einen gewaltigen Satz: von 14 auf vier. Ganz vorne bleibt der Österreicher Stefan Kraft. Der Oberstdorf-Sieger wurde gestern Sechster und verteidigte damit seine Führung hauchdünn gegen Peter Prevc. „Das schaut ganz gut aus“, sagte der zweitplatzierte Slowene, „aber es kommen ja noch zwei Schanzen“. Freund und Freitag belegen zur Halbzeit die Plätze zwölf und 13.
Mit der Entscheidung ganz vorne haben sie nichts zu tun. Für sie gilt es, bei den verbleibenden zwei Springen in Österreich gute Tagesergebnisse zu schaffen. Allzu euphorisch wirkten sie gestern nicht. Die Auftaktpleite im dichten Schneetreiben von Oberstdorf und die damit verbundene Erkenntnis, dass es auch in diesem Jahr keinen deutschen Gesamtsieger geben wird, wirken nach. „Das war noch nicht der ganz große Befreiungsschlag“, sagte Freund nach seinem zweiten Sprung. Befand aber immerhin: „Wir sind auf dem richtigen Weg.“
Ein Platz auf dem Podium in Innsbruck?
Wohin der führt, wird sich in Innsbruck zeigen. Dort findet am Sonntag das dritte Springen statt. „Ich glaube weiter daran: Für uns ist da ein Platz auf dem Podium möglich“, sagte Bundestrainer Werner Schuster.
Ob das klappt, ist zumindest fraglich. Sicher ist nur, dass es wieder ein Fahnenmeer zu sehen geben wird. Dann in rot-weiß-rot.