Das Spiel um Platz drei bei der Nations League dürfte wohl kaum jemandem dauerhaft in Erinnerung bleiben. Vielleicht am ehesten noch den Italienern, die sich nach dem 2:1 gegen Belgien freuen konnten über ... Ja, was eigentlich? Schon die Gründung der Nations League im Jahr 2018 rief unter einigen Spielern Befremden hervor. Belgiens Torwart Thibaut Courtois hatte dazu eine klare Meinung: "Dieses Spiel um Platz drei und vier ist nur ein Spiel ums Geld, und da müssen wir ehrlich sein. Wir spielen es nur, weil es für die Uefa zusätzliches Geld bedeutet."
Und einmal in Fahrt, legte der Schlussmann von Real Madrid nach: "Es ist eine schlechte Sache, nicht über die Spieler zu sprechen. Und jetzt hört man, dass jedes Jahr entweder eine EM oder eine WM ausgetragen werden. Wann ruhen wir uns aus? Niemals. Wir sind keine Roboter! Es gibt immer mehr Spiele und weniger Ruhephasen für uns."
Die Spielpläne werden weltweit zusammengestaucht
Tatsächlich droht den Nationalspielern im Jahr 2022 eine Belastung, wie es sie bislang nicht gegeben hat: Weil die WM in Katar im November und Dezember stattfindet, wird der Spielplan aller weltweiten Fußball-Ligen zusammengestaucht, um dort die Weltmeisterschaft hineinpressen zu können. Das dadurch freigewordene Loch im Sommer wird mitnichten für Regeneration genutzt, sondern um die ersten Spiele der neuen Nations League austragen zu können. Die Bundesliga soll 2022 bereits im Juli und damit so früh wie seit 19 Jahren nicht mehr starten. Zeitgleich gibt es beim Weltverband Fifa Überlegungen, künftig alle zwei Jahre eine WM auszutragen.
Für Dr. Ulrich Boenisch von der Augsburger Hessingpark-Clinic ein Unding. Der Mediziner ist ein bundesweit bekannter Kniespezialist und ärztlicher Leiter der Augsburger Hessingpark-Clinic. Zu seinen Patienten gehören Profis wie Toni Kroos oder Jérôme Boateng. Für ihn stellt die Terminhatz im Jahr 2022 den negativen Höhepunkt einer Spirale dar: "Die Belastung ist ohnehin schon enorm. Und nun knallen Uefa und Fifa den Terminkalender derart voll, dass es keinen verantwortungsvollen Umgang mit den Athleten mehr geben kann." Schon in den vergangenen beiden Spielzeiten seien die wenigen spielfreien Phasen durch den Nachholdruck infolge der Corona-Pause fast komplett aufgebraucht, beklagt Boenisch. Dazu komme, dass es bei den Verletzungen, die in seiner Praxis auftauchen, ein ganz klares Muster gibt: "90 Prozent der Verletzungen betrifft die Beine – und davon ein Viertel sind Verletzungen der Oberschenkel-Muskulatur." Muskelverletzungen wiederum seien oft eine Folge von schierer Überanstrengung und wären bei entsprechender Regeneration zu vermeiden. Aber was, wenn es keine Zeit mehr zur Regeneration gibt? „Wenn man dauerhaft in englischen Wochen spielt, kann die Belastungssteuerung nicht mehr funktionieren.“
Zudem sei der Druck, wieder fit zu sein, enorm: "Wenn ich zu einem Spieler sage: Du brauchst diese Zeit, um wieder fit zu werden. Dann kommen Berater und Manager und fragen, ob das nicht schneller geht." Vor allem bei auslaufenden Verträgen wolle sich jeder Spieler zeigen und spielen – notfalls eben auf Kosten der Gesundheit.
"Diese Branche hat ihr Verantwortungsbewusstsein verloren"
Das ist insofern ein Teufelskreis, weil nach einer Verletzung die Gefahr steigt, sich erneut zu verletzen. „Eine Muskelverletzung heilt mit einer Narbe aus. Das ist gewissermaßen eine Sollbruchstelle.“ Schon jetzt verletzen sich zwölf Prozent aller am Oberschenkel verletzten Spieler erneut. Boenisch kommt zu einem harten Urteil: „Hier wird Raubbau am Körper betrieben. Diese Branche hat ihr Verantwortungsbewusstsein verloren.“
Mit dieser Meinung steht der Mediziner längst nicht alleine da. Toni Kroos gab vor kurzem in seinem Podcast "Einfach mal Luppen" zu, dass die Dauerbelastung einer der Gründe für seinen Rücktritt aus der Nationalelf war: "Am Ende der Tage sind wir bei diesen ganzen zusätzlichen Sachen, die erfunden werden, als Spieler nur die Marionetten von Fifa und Uefa. Da wird ja keiner gefragt." Schon zu seiner Zeit beim FC Bayern sagte Pep Guardiola: "Wir killen die Spieler. Wir verlangen zu viel von ihnen."
Dabei betreffen die Probleme längst nicht mehr nur die Nationalspieler. Boenisch berichtet, dass sich der Raubbau am Körper mittlerweile bis hinunter in die 3. Liga bemerkbar macht. Auch hier sind die Pausen immer knapper, fangen die Ligen immer früher an.
Der Fußball lässt sich nur schwer mit anderen Sportarten vergleichen
Aber beklagen sich Fußballer vielleicht zu Unrecht? In anderen Sportarten wie im Eishockey, Basketball oder Handball ist eine derart enge Taktung längst an der Tagesordnung. Daniel Memmert ist Professor am Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Sporthochschule in Köln und warnt davor, Vergleiche zu ziehen: "Das kann man so nicht vergleichen. In vielen Sportarten gibt es ebenfalls eine enorm hohe Taktung der Spiele." So sei es im US-Basketball keine Seltenheit, dass Teams alle zwei Tage ran müssten. "Andererseits ist im Fußball das Spielfeld eben auch relativ groß." Eine Sache gelte jedoch für alle genannten Sportarten: Die Belastung ist schlichtweg zu groß. "Und die Regeneration ist ein Riesenproblem."
Um die Spieler zu schützen, müssten die Verantwortlichen in den Vereinen umdenken, fordert Memmert – und zieht einen Vergleich zum Tennis. "Da spielen die Topspieler auch nicht mehr jedes Turnier. Sie haben erkannt, dass das einfach nicht mehr funktioniert. Davon könnten sich manche Fußballer eine Scheibe abschneiden." Sprich: Die Topspieler sollten eine Pause erhalten, bevor die Muskeln reißen. "Muss Robert Lewandowski zum Beispiel wirklich gegen Bielefeld spielen?"
Der Pole ist zwar dafür bekannt, in möglichst jeder Spielminute auf dem Platz stehen zu wollen, sollte aber in dieser Hinsicht vor sich selbst geschützt werden. "Das müssen sich mehrere Leute überlegen – und notfalls muss hier gegen den Willen von Spieler, Mitspieler, Trainer, Manager, Fans beider Lager, oder Berater entschieden werden, die auf einen Einsatz drängen." Einen Kader, der groß genug ist, um Spielern rechtzeitig eine Pause zu geben, sieht auch Ulrich Boenisch als möglichen Ausweg an. In Zeiten von Sparmaßnahmen durch Corona ist das aber ein Luxus, den sich – wenn überhaupt – nur größere Vereine leisten können.
Oder gibt es am Ende einen Aufstand der Spieler? Laut dem eingangs erwähnten Courtois ist das der einzige Weg: "Wenn wir nie etwas sagen, wird es immer dasselbe sein.“