An guten Ratschlägen mangelt es Joachim Löw nicht. Während der angeschlagene Bundestrainer das WM-Debakel weiter an nicht bekanntem Urlaubsort verarbeitet, hat sich ausgerechnet sein einstiger Musterschüler Philipp Lahm ungewöhnlich deutlich zu Wort gemeldet.
Kurz vor seinem Auftritt als Pokal-Presenter am Sonntag beim Finale im Moskauer Luschniki-Stadion, also genau dort, wo Löw so gern Fußball-Geschichte geschrieben hätte, analysierte Lahm auf seinem Nutzerkonto bei linkedin.com den deutschen WM-K.o. unter der Überschrift: "Wenn ausbleibende Veränderungen Erfolg verhindern."
Lahmt ist überzeugt davon, dass Löw "seinen kollegialen Führungsstil ändern muss"
Löw taucht dabei namentlich erst im letzten Absatz auf, doch das Urteil ist klar: "Ich bin überzeugt davon, dass Jogi Löw seinen kollegialen Führungsstil der letzten Jahre ändern muss, wenn er mit der neuen Generation von Nationalspielern wieder Erfolg haben möchte. Das ist kein Zeichen der Schwäche, sondern der Weiterentwicklung", schrieb der Ehrenspielführer und bekam dafür bisher in dem sozialen Netzwerk zur Pflege von Geschäftskontakten mehr als 1000 "Gefällt mir"-Bekundungen.
Lahms Analyse im Gewand eines Beitrags für ein Führungskräfteseminar kommt in der Form überraschend. Gerade er hatte immer eine große Nähe zu Löw und war in Entscheidungsprozesse als Kapitän bis zu seinem Rücktritt nach der Krönung mit dem WM-Sieg 2014 in Brasilien eng eingebunden. Bei seiner Kür zum Ehrenspielführer im vergangenen Dezember hatte der Bundestrainer ihn in einer emotionalen Laudatio zu seinem "Weltfußballer des Jahrzehnts" ernannt.
Als Botschafter der Bewerbung des DFB für die EM 2024 ist Lahm eng mit der Verbandsspitze um Präsident Reinhard Grindel und Nationalmannschafts-Direktor Oliver Bierhoff verbandelt, viele sehen ihn für beide Posten eines Tages als aussichtsreichen Kandidaten. Lahms Internetbeitrag könnten Bierhoff und Löw quasi 1:1 in ihre WM-Analyse übernehmen, die sie bis zum 24. August dem DFB-Präsidium vorlegen müssen.
Zwischen den Weltmeistern von 2014 und den Nachrückern gibt es einen Generationenunterschied
Kernpunkt der Lahm-Ausführung ist die Feststellung eines Generationenunterschieds zwischen seiner eigenen 2014er-Mannschaft und den nachrückenden Akteuren. "Er muss Individualisten klar machen, dass sie Verantwortung für die gesamte Mannschaft tragen", schreibt der 34 Jahre alte Lahm. Er zählt offenbar auch Mesut Özil (29) und Ilkay Gündogan (27) schon zu der Altersklasse, die "zu hundert Prozent aus den Jugendleistungszentren" stammt. Bei der neuen Generation fehle "der Blick für das Ganze, die Verantwortung des Einzelnen für die Mannschaft" trete als Leistungsmotiv in den Hintergrund.
Es bedürfe einer klaren Ansprache, die Löw offenbar nicht gepflegt habe. "Diese klare Ansprache hätte es zum Beispiel gebraucht, als die Affäre um Mesut Özil und İlkay Gündoğan um das gemeinsame Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hochgekocht ist", schrieb Lahm. Stattdessen habe sich das Trainerteam um Löw "darauf verlassen, dass die praktizierte Führungskultur der vergangenen, erfolgreichen Jahre ausreicht, um einmal mehr erfolgreich zu sein".
Einen konkreten Rat hat DFB-Werbefigur und Jung-Unternehmer Lahm auch für Löw: "Oft braucht es gar nicht viel, um eine Mannschaft nach überraschenden Misserfolgen wieder in die Spur zu bringen. Führung bedeutet, die Lage hellwach zu sondieren und auch die eigenen Methoden auf den Prüfstand zu stellen und neu zu bewerten."
Auch Löws Vorgänger Klinsmann hatte einen Umbruch angemahnt
Ähnlich hatte sich auch schon Löws Vorgänger und einstiger Chef Klinsmann geäußert und eine Komplett-Inventur nach dem WM-Versagen angemahnt. "Es ist wichtig, dass sie jedes kleine Stück analysieren, dass sie selbstkritisch sind. Und dann läuft die Zeit, weil sie schon im September gegen Frankreich in der Nations League spielen", mahnte der Ex-Bundestrainer beim englischen Sender BBC.
Der bei der WM als FIFA-Legende hofierte Matthäus hatte Löw für die Zusammenstellung der WM-Auswahl kritisiert, ihn aber als richtigen Mann für den Neuaufbau gepriesen. Das sieht auch Lahm so: "Er muss eine Kultur strafferer, klarerer Entscheidungen etablieren als er selbst das gewohnt war. Wenn ihm das gelingt, bin ich für die Zukunft unserer Mannschaft sehr optimistisch." (dpa)