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Fußball: In der Hölle des Löwen: Der Abstieg des TSV 1860 München

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In der Hölle des Löwen: Der Abstieg des TSV 1860 München

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    Da helfen auch keine tröstenden Worte: Nach der 0:2-Niederlage im Relegationsspiel gegen den SSV Jahn Regensburg saßen die Löwenspieler niedergeschlagen auf dem Platz.
    Da helfen auch keine tröstenden Worte: Nach der 0:2-Niederlage im Relegationsspiel gegen den SSV Jahn Regensburg saßen die Löwenspieler niedergeschlagen auf dem Platz. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Immerhin der Stadion-DJ beweist so etwas wie Humor. Nachdem Schiedsrichter Daniel Siebert mit dem finalen Pfiff den Abstieg der Löwen besiegelt hat, spielt er nicht etwa die ausgewaschene Stadionhymne You’ll never walk alone ein. Der Mann lässt den alten Bierzeltrausschmeißer Sierra Madre aus den Boxen hallen. Unterlegt freilich mit einem Text, der Bezug nimmt zu den großartigen Charaktereigenschaften, die den TSV 1860 München im Allgemeinen und die Fans im Speziellen auszeichnet. Zusammenhalt, Treue, solche Sachen.

    Wenige Minuten zuvor haben die Anhänger noch in Richtung der eigenen Spieler gerufen: "Wir sind Löwen und ihr nicht." Damit wird den Profis abgesprochen, sich ebenso inbrünstig für den Verein einzusetzen, wie sie es tun. Es ist aber auch ein Blick in die Zukunft. In wenigen Wochen nämlich werden die meisten Spieler, die derzeit bei diesem sonderbaren Verein unter Vertrag stehen, einfach nicht mehr da sein. Und keiner kann es verhindern. Lediglich die Arbeitspapiere einiger weniger Nachwuchsspieler haben Gültigkeit für die dritte Liga. Der Rest darf, kann und soll die Stadt schnellstmöglich verlassen.

    1860 München und Ismaik: Eine Chronologie des Chaos

    Im Frühjahr 2011 stand 1860 München bereits vor dem Aus - erst Investor Hasan Ismaik bewahrte die "Löwen" durch seinen millionenschweren Einstieg vor der Insolvenz. Der Jordanier erschien in Giesing als strahlender Retter und hatte Visionen von der Rückkehr in die Fußball-Bundesliga und sogar einem Angriff auf die besten Vereine Europas um den Stadtrivalen FC Bayern und den FC Barcelona.

    Das 1860-Drama in sechs Akten:

    2011/12: Euphorisiert vom Einstieg des Geschäftsmannes aus Abu Dhabi werden erste Dissonanzen zwischen Investor und Verein noch großteils wegmoderiert. "Wir haben klar gesagt, dass wir als Team erfolgreich sein wollen", sagt der damalige Geschäftsführer Robert Schäfer. Die Mannschaft unter Trainer Rainer Maurer spielt eine gute Saison, rangiert ab Spieltag drei bis zum Schluss auf einem einstelligen Tabellenplatz und verpasst als Sechster die Aufstiegsränge nur knapp.

    2012/13: Auch die Spielzeit kann sich sportlich sehen lassen, 1860 landet wieder auf Rang sechs. Coach Maurer erlebt das aber schon nicht mehr als Verantwortlicher mit, er muss im November gehen. Nachfolger wird Alexander Schmidt, der international erfahrene Sven-Göran Eriksson soll ebenfalls einsteigen. Als der Schwede überraschend doch absagt, gibt Ismaik dem Präsidenten Dieter Schneider die Schuld. Es ist nicht der erste Angriff Ismaiks auf Schneider, der im März hinwirft. 

    2013/14: Nun probiert sich Gerhard Mayrhofer an der Spitze des TSV und wird von Ismaik erstmal als "Profi durch und durch" gelobt. In der Geschäftsleitung soll Markus Rejek als Finanzfachmann für neue Impulse sorgen, kurz vor Saisonende wird Gerhard Poschner für die sportliche Seite und vor allem Spielertransfers verpflichtet. Trainer Schmidt wird schon vor Herbstbeginn gefeuert und durch Friedhelm Funkel ersetzt. Als der seinen Weggang zum Saisonende verkündet, wird er im April freigestellt. Co-Trainer Markus von Ahlen übernimmt bis zum 34. Spieltag und führt die Münchner auf den siebten Platz.

    2014/15: Die Ränge sechs, sechs und sieben sind Ismaiks Sechzigern zu wenig, also soll der Niederländer Ricardo Moniz endlich für den Aufstieg sorgen. "Wir werden Meister", tönt er. Doch der sportliche Niedergang nimmt Fahrt auf. Schon im September ist Moniz' Zeit vorbei, nach ihm versuchen sich erneut von Ahlen und ab Februar U21-Trainer Torsten Fröhling. Statt Aufstieg steht der Kampf gegen den Abstieg im Fokus, am Ende retten sich die "Löwen" erst in der Relegation gegen Holstein Kiel durch ein Tor in der Nachspielzeit des Rückspiels. Ismaik wird immer ungeduldiger, auch weil Poschners Transferpolitik grandios scheitert. Am Saisonende hört Präsident Mayrhofer auf, genervt vom "Kasperltheater" und der "Katzbuckelei" vor Ismaik, wie er sagt.

    2015/16: Jetzt probiert es Interimspräsident Siegfried Schneider und geht auf Ismaik zu. Dessen Cousin Noor Basha, ein gelernter Apotheker, darf sogar Sport-Geschäftsführer werden und neben Finanzmann Rejek die Geschicke der Profis leiten. Neuer Manager wird Oliver Kreuzer. Auch Neu-Präsident Peter Cassalette wählt einen Kuschelkurs mit Ismaik. Sportlich läuft es wieder katastrophal: Die vier verschiedenen Trainer Fröhling, Benno Möhlmann, Daniel Bierofka und Denis Buschujew kriegen es wenigstens hin, als 15. nicht in die Relegation zu müssen.

    2016/17: Cassalette ist inzwischen voll auf Ismaiks Linie eingeschwenkt und wirkt wie ein Erfüllungsgehilfe, ein Contra erscheint ihm offenbar zwecklos. Als Manager schafft Thomas Eichin bis zu seiner Beurlaubung gerade mal dreieinhalb Monate und wird ersetzt von einem gewissen Anthony Power, seines Zeichens Maschinenbauer und Ismaik-Vertrauter.  Zwischendurch sorgt der Verein mit einem Presseboykott für Aufsehen. Mit dem Liverpool-Manager Ian Ayre hofft Ismaik ab April endlich auf internationales Flair, doch Ayre wirft nach zwei Monaten hin. Wieder verbraucht 1860 in einer Saison vier Trainer: Unter dem einstigen Champions-League-Coach Vitor Pereira steigt 1860 aus der 2. Liga ab.

    An diesem Dienstag gibt der Verein ein auf allen Ebenen erschreckendes Bild ab. Im Nachhinein lässt sich leicht analysieren, dass die Entwicklungen der vergangenen Jahre in einen derart schaurigen Abend würden münden müssen. Dass die Münchner nach 24 Jahren wieder in die Drittklassigkeit verschwinden würden. Ein Abklatsch jenes gleichwohl stolzen wie sentimentalen Vereins, der mal die Arbeiterschicht Münchens repräsentierte und nun zugrunde gerichtet wurde. Nicht zum ersten Mal in der traditionsreichen Geschichte – was den gutgläubigen Anhängern noch ein Mindestmaß an Hoffnung lässt.

    TSV 1860 München: Ein demütigender Abstieg

    Bevor nun aber der DJ von weiß-blauer Nibelungentreue fabulieren lässt, zeigen sich die Fans von einer schauderhaften Seite. Es sind noch zehn Minuten gegen Regensburg zu spielen, als sie Sitze und Stangen aufs Spielfeld werfen. Zehn Polizisten werden leicht verletzt. Dass die Partie nach einer 15-minütigen Unterbrechung fortgesetzt wird, liegt einzig an Regensburgs Torwart Philipp Pentke, der sich bereit erklärt, seinen Arbeitsplatz wieder einzunehmen und so lange weiterzuspielen, bis ihn ein Wurfgeschoss trifft. Zum Glück ist es um die Zielgenauigkeit der Fans ebenso schlecht bestellt wie um ihr Benehmen.

    1860 München steigt nach den Relegations-Spielen in 3. Liga ab.
    1860 München steigt nach den Relegations-Spielen in 3. Liga ab. Foto: Andreas Gebert, dpa

    Auf recht viel demütigendere Weise als die Münchner kann eine Mannschaft kaum absteigen. Der Dilettantismus, die absolute Hilflosigkeit, mit der die Münchner sowohl auf als auch jenseits des Feldes agieren, überrascht aber selbst erfahrene Begleiter des Vereins. Es findet sich nach der Partie kein Verantwortlicher der Löwen, der zu den Ausschreitungen etwas sagen will. Oder über die Zukunft des Klubs. Aber wer kann denn auch etwas erzählen? Investor Hasan Ismaik? Ist nicht in der Allianz-Arena, als sich sein Multimillionen-Euro-Investment in die Drittklassigkeit verabschiedet. Ian Ayre ist schon nicht mehr Geschäftsführer, als die Spieler auf dem Rasen kauern. Der vor zwei Monaten vom FC Liverpool verpflichtete Mann trat bereits vor dem Spiel zurück. Was die Münchner aber erst in einer Pressemitteilung um 22.49 Uhr bekannt geben. "Um die Mannschaft und das Umfeld vor dem wichtigen Spiel gegen Regensburg nicht zu belasten", begründen die Münchner die späte Kunde vom Rücktritt.

    Dafür berichten die Münchner in derselben Postille auch noch vom Rückzug des Präsidenten Peter Cassalette. Der verlässt das Stadion bereits kurz vor dem Abpfiff und sagt der Pressesprecherin, er sei für niemanden zu erreichen.

    Offizielles Schweigen also. Das gab es in der näheren und fernen Vergangenheit selten. Schließlich zeichnen sich Präsidenten, Geschäftsführer und Sportdirektoren der Münchner seit jeher eher durch ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis denn durch sportliche oder wirtschaftliche Expertise aus. Oft wird übereinander geredet, selten miteinander und am häufigsten durcheinander. Letztmals klare Strukturen im Verein lebte ja tatsächlich das barocke Paar Wildmoser/Lorant vor. Dann war der Trainer dem Präsidenten nicht mehr gut genug.

    Das Personal-Chaos beim TSV 1860 München

    Seit dem Abstieg des TSV 1860 München von der ersten in die zweite Bundesliga im Jahr 2004 hat der Verein mit einem beispiellosen Führungs-Chaos zu kämpfen.

    Das lässt sich allein an der Zahl der Trainer (22!) festmachen:

    Gerald Vanenburg (4/04-6/04)

    Rudi Bommer (7/04-12/04)

    Reiner Maurer (12/04-1/06)

    Bernhard Trares (1/06)

    Walter Schachner (1/06-3/07)

    Marco Kurz (3/07-2/09)

    Uwe Wolf (2/09-5/09)

    Ewald Lienen (5/09-6/10)

    Reiner Maurer (6/10-11/12)

    Alexander Schmidt (11/12-8/13)

    Markus von Ahlen (8/13-9/13)

    Friedhelm Funkel (9/13-4/14)

    Markus von Ahlen (4/14-6/14)

    Ricardo Moniz (6/14-9/14)

    Markus von Ahlen (9/14-2/15)

    Torsten Fröhling (2/15-10/15)

    Benno Möhlmann (10/15-4/16)

    Daniel Bierofka (4/16-5/16)

    Denis Buschujew (5/16-6/16)

    Kosta Runjaic (7/16-11/16)

    Daniel Bierofka (11/16-12/16)

    Vitor Pereira (seit 1/17)

    Und auch die Präsidenten (9) wechselten häufig:

    Karl Auer

    Alfred Lehner

    Albrecht von Linde

    Rainer Beeck

    Dieter Schneider

    Hep Monatzeder

    Gerhard Mayrhofer

    Siegfried Schneider

    Peter Cassalette

    Investor Ismaik: Ohne ihn drohen Insolvenz und Regionalliga

    Der nebenberufliche Hendlbrater Karl-Heinz Wildmoser ließ sich später in ein Korruptionsgschichterl rund um den Bau der Allianz-Arena verwickeln. Eine wirklich unangenehme Sache. Und weil in so einer Phase aber auch eben alles schiefläuft, was nur schieflaufen kann, ballerte Francis Kioyo im entscheidenden Spiel gegen Hertha BSC Berlin einen Elfmeter in die Walachei. Abstieg. 13 Jahre liegt dieser Fehlschuss nun zurück, in dem viele Anhänger die Ursache für den Niedergang des Vereins sehen. Ebenso bedeutend war aber der Einzug in die Allianz-Arena. Nur wegen der daraus resultierenden Verschuldung musste ein Investor gesucht werden. Sollte es Ismaik nun leid sein, den Verein weiter zu alimentieren, droht die Insolvenz und der Absturz in die viertklassige Regionalliga.

    Es wäre nicht der erste Zwangsabstieg der Münchner. Nach dem Lizenzentzug 1982 darbte der Verein neun Jahre in der Bayernliga. Doch schon damals gelang es dem Klub nicht, seine Fans zu vergraulen. Sie begleiteten das Team nach Ampfing, Frohnlach und Schweinfurt. Den Löwen-Fan – so er nicht zur kleinen Gruppe derer gehört, die Sitze und Stangen auf das Feld werfen – zeichnet ein Zweiklang aus Folklore und Gleichgültigkeit aus. Empfindliche Niederlagen, bittere Abstiege – was soll’s? Aber der Pokalsieg 1964, die Meisterschaft 1966! Dazwischen das Endspiel im Europapokal der Pokalsieger. 97.974 Zuschauer im Wembleystadion. Die 0:2-Niederlage gegen West Ham – nebensächlich. Das war aber auch eine Mannschaft, die Trainer Max Merkel da spielen ließ: Im Tor der freischaffende Künstler Petar Radenkovic. Im Mittelfeld der feine Techniker Peter Grosser, der den wuchtigen Stürmer Rudi Brunnenmeier bediente. Bundesliga-Rekordschütze der Münchner. Torschützenkönig 1965. Aus Bomber-Rudi wurde Skandal-Rudi. Tauchte betrunken beim Training auf, tingelte durch niederklassige Ligen. Später: Rausschmeißer und Brezl-Verkäufer. Im Alter von 62 Jahren hatte er sich totgetrunken. In München gab es in etwa zur aktiven Zeit Brunnenmeiers einen weiteren Stürmer mit ähnlichen Problemen. Der spielte für den benachbarten FC Bayern, damals noch die Nummer zwei in der Stadt.

    Mai 2004: Am 15. Mai 2004 läuft die 89. Minute des Spiels zwischen dem TSV 1860 und Hertha BSC Berlin, es steht 1:1. Löwen-Stürmer Francis Kioyo verschießt einen Elfmeter. Am letzten Spieltag der Saison eine Woche später verliert Sechzig in Mönchengladbach und steigt nach zehn Jahren in der Bundesliga ab.
    Mai 2004: Am 15. Mai 2004 läuft die 89. Minute des Spiels zwischen dem TSV 1860 und Hertha BSC Berlin, es steht 1:1. Löwen-Stürmer Francis Kioyo verschießt einen Elfmeter. Am letzten Spieltag der Saison eine Woche später verliert Sechzig in Mönchengladbach und steigt nach zehn Jahren in der Bundesliga ab. Foto: Frank Leonhardt, dpa (Archiv)

    Dem späteren Rekordmeister gelang es, Gerd Müller zu retten. Ihn wieder in das Vereinsleben einzubinden. Geführt wird der FC Bayern von ehemaligen Spielern. Ehemalige Spieler der Löwen fallen meistens durch kluge Ratschläge auf. Der Verein legt seit dem Einstieg Ismaiks 2011 aber auch keinen gesteigerten Wert darauf, altgediente Akteure mit Verantwortung zu betrauen. Lediglich Daniel Bierofka ist als Trainer der zweiten Mannschaft an wichtiger Stelle aktiv. Er ist es auch, der am Dienstag gegen Regensburg in die randalierende Kurve geschickt wird, um zu beschwichtigen. Er wird beworfen. Wenig später singen die Anhänger: "Außer Biero könnt ihr alle gehen."

    62.000-fache Unterstützung gegen Regensburg

    Mannschaft und Fans sind weit voneinander entfernt. Seltsamerweise aber kann der Verein wohl weiter auf seine Anhänger bauen. Sie werden den Verein auch in der dritten Liga unterstützen. Oder in der Regionalliga. Natürlich nicht 62.000-fach wie gegen Regensburg, aber doch bemerkbar. Egal, wie der Präsident heißt. Ob Ismaik den Verein sich selbst überlässt oder den nächsten Wundertrainer an die Seitenlinie beordert. Sie werden in die ungeliebte Allianz-Arena kommen oder ins mythisch aufgeladene Grünwalder Stadion. Es liegt nicht in ihrer Hand. "Sollten die Löwen tatsächlich zurück ins Grünwalder Stadion wollen, dann werden wir das gerne prüfen und so weit wie möglich auch unterstützen", sagt Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter am Mittwoch.

    Ein Weg, den viele Anhänger bevorzugen. Sie werden ihre blauen Trikots anziehen. Trikots, auf denen "Lauth" steht, "Agostino", "Nowak", "Häßler" oder "Pele". Namen aus einer besseren Zeit. Als es auch dem unbefangenen Fußballfan nicht schwerfiel, sich für die Löwen zu freuen. Andere Zeiten.

    Noch zehrt der Klub davon. Vielleicht kehrt er in wenigen Jahren entgiftet zurück. Vielleicht verschwindet er vollkommen in der Versenkung. Das Schöne am Fußball ist ja, dass er immer wieder neue Chancen bietet. Sogar dem TSV 1860 München.

    Einmal Löwe immer Löwe. Gilt da auch jetzt noch? Das Bild entstand bei einem Spiel des TSV 1860 München gegen Karlsruhe.
    Einmal Löwe immer Löwe. Gilt da auch jetzt noch? Das Bild entstand bei einem Spiel des TSV 1860 München gegen Karlsruhe. Foto: Matthias Schrader, dpa/lby
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