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Fußball-EM: Die Euphorie der EM hat die Pandemie ins Abseits gestellt

Fußball-EM

Die Euphorie der EM hat die Pandemie ins Abseits gestellt

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    Maske? Abstand halten? Nix da. „Sweet Caroline!“ singen die englischen Fans in Wembley. Das ist ihre inoffizielle EM-Hymne.
    Maske? Abstand halten? Nix da. „Sweet Caroline!“ singen die englischen Fans in Wembley. Das ist ihre inoffizielle EM-Hymne. Foto: Christian Charisius, dpa

    Es ist selten, dass man so viele Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sieht, die so offensichtlich glücklich darüber sind, zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Die Zeit ist der vergangene Mittwochabend, der Ort das Wembley-Stadion in London.

    20 Minuten vor Anpfiff des EM-Halbfinals zwischen England und Dänemark bringt sich das Publikum in Stimmung. Aus den Boxen kommt das Lied „Whole Again“ von der englischen Pop-Gruppe Atomic Kitten. Die Fans singen in voller Lautstärke mit, allerdings haben sie den Text abgewandelt und ihrem Trainer gewidmet: „Southgate, you’re the one, you still turn me on. Football’s coming home again.“

    Überall sieht man Menschen, die überlaufen vor Aufregung. Wenige Reihen vor den Reporterplätzen stehen zwei Männer Arm in Arm, offenkundig ein Vater mit seinem erwachsenen Sohn. Einer der freiwilligen Helfer von der Uefa macht ein Foto von ihnen, sie lächeln. Im Hintergrund liegt der perfekte Rasen, über dem Stadion scheint noch die Sonne. Es ist schwer, die Szenerie nicht ergreifend zu finden.

    Rund drei Stunden später hat England durch das 2:1 in der Verlängerung zum ersten Mal seit 55 Jahren ein Turnier-Finale erreicht. Und wenn man den Frohsinn danach als Vorboten für das betrachten darf, was am Sonntag um 21 Uhr deutscher Zeit in dieser heiligen Stätte los sein wird, wenn die Three Lions auf Italien treffen – ja, dann: Prost Mahlzeit! Wie war das noch mal mit Corona?

    Von wegen Abstand: Zehntausende singen „Sweet Caroline!“

    Die Frage würden dann die wenigsten hören wollen, ob der Lautstärke auch nicht hören können. Hätten sie ja schon nicht am Mittwoch. Als nach dem Schlusspfiff aus den Lautsprechern „Sweet Caroline!“ - die inoffizielle EM-Hymne der Engländer - donnert, und der Großteil der etwa 65.000 Zuschauer so leidenschaftlich mitsingt, dass ihnen am Tag danach die Stimme versagt haben dürfte.

    Die Fans stehen auf den Sitzen, liegen sich in den Armen, springen auf und ab. Tränen sind zu sehen. Rechts neben den Journalistenplätzen klatscht ein kleiner Junge im Takt und strahlt, überwältigt von allem, was um ihn herum passiert. Trotz fragwürdiger Entstehung des entscheidenden Elfmeters, der den Siegtreffer durch Harry Kane brachte, ist es als neutraler Betrachter im Stadion schwer, sich in diesem Moment nicht für die Engländer zu freuen.

    Nach dem Finaleinzug feierten englische Fans vor dem Wembley-Stadion. An die Corona-Regeln dachten die wenigsten in diesem Moment.
    Nach dem Finaleinzug feierten englische Fans vor dem Wembley-Stadion. An die Corona-Regeln dachten die wenigsten in diesem Moment. Foto: Zac Goodwin, dpa

    Doch die große Frage ist natürlich die Frage, die dann doch niemand stellt, aber die trotzdem über der rauschenden Veranstaltung im Wembley-Stadion schwebt: Wie gefährlich ist das alles?

    Eine Europameisterschaft in elf Ländern in Zeiten einer globalen Pandemie abzuhalten, das war von Beginn an umstritten. Das vergangene Jahr hat bewiesen, dass es möglich ist, Sportveranstaltungen sicher über die Bühne zu bringen. Diese fanden allerdings weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit oder vor sehr überschaubarem Publikum statt.

    Für VIPs und Sponsoren gelten Corona-Ausnahmeregeln

    Bei der EM ist das anders. Die Stadien sind voller als im vergangenen Jahr, teilweise sehr viel voller. In der Puskás-Aréna in Budapest wurde bekanntlich bei kompletter Auslastung gespielt, zu jeder der vier Partien waren 61.000 Zuschauer zugelassen. Eine Maskenpflicht bestand nicht. Angeblich erhielten nur Menschen mit voller Impfung oder negativem PCR-Test Einlass.

    Das Londoner Wembley-Stadion, die mit Abstand größte Arena des Turniers, operierte in der Vorrunde mit 22.500 Zuschauern. Bei den Halbfinals zwischen Italien und Spanien (4:2 nach Elfmeterschießen) und eben England gegen Dänemark waren mehr als 60.000 Menschen zugelassen. So soll es auch beim Endspiel an diesem Sonntag sein. Für VIPs, Sponsoren und sonstige Ehrengäste setzte der europäische Fußballverband Uefa Ausnahmen von den Quarantäneregeln im Vereinigten Königreich durch. Diese schreiben eigentlich zehn Tage Isolation vor bei der Einreise aus den meisten europäischen Ländern.

    Mit der hohen Auslastung in Wembley ist die britische Regierung der Uefa entgegengekommen, nachdem diese offenkundig damit gedroht hatte, die entscheidenden Partien des Turniers ansonsten nach Budapest zu vergeben. Dass die Halbfinals und das Finale vor so vielen Fans stattfinden, obwohl die Fallzahlen im Vereinigten Königreich wegen der Delta-Variante auf dem höchsten Stand seit Ende Januar sind und die Sieben-Tage-Inzidenz bei fast 270 liegt – das hat viel Kritik im Ausland ausgelöst.

    Der britische Premierminister Boris Johnson und seine Frau Carrie beim Halbfinale gegen Dänemark.
    Der britische Premierminister Boris Johnson und seine Frau Carrie beim Halbfinale gegen Dänemark. Foto: Justin Tallis, dpa

    Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Beispiel betonte kürzlich bei ihrem Treffen mit Premierminister Boris Johnson, dass ihr die Massenveranstaltungen in Wembley Unbehagen bereiten würden: „Ich bin sorgenvoll und skeptisch, ob das gut ist und nicht ein bisschen viel.“ Deutlicher äußerte sich Bundesinnenminister Horst Seehofer. Er nannte das Vorgehen der Uefa „absolut verantwortungslos“. Diese schiebt die Verantwortung natürlich weiter und verweist darauf, dass die Auslastung der Stadien an den einzelnen Spielorten im Einklang stehen würde mit den Corona-Regeln in den jeweiligen Ländern.

    Es zählt nur eins: die Helden der englischen Mannschaft

    In London kommt von dieser Debatte wenig an. Die Zeitungen sind voll von den Heldentaten der englischen Mannschaft, die nun zum ersten Mal Europameister werden kann. Es wäre der erste Titel bei einem bedeutenden Turnier für die Engländer seit dem Erfolg bei der WM 1966, ebenfalls im heimischen Wembley-Stadion. Die Corona-Problematik bei der EM wird weitgehend ignoriert. Das war auch bei den Feierszenen aus den Zentren der großen englischen Städte nach dem Finaleinzug zu sehen.

    Dazu muss man sagen, dass England bei der Aufhebung der Corona-Beschränkungen deutlich früher dran war als Deutschland. Man verspürt hierzulande also schon länger eine gewisse Normalität. Die Außengastronomie öffnete Mitte April, seit Mitte Mai darf man in Restaurants, Kneipen und Bars auch wieder drinnen sitzen. Der 19. Juli ist zum „Freedom Day“ erklärt worden – dann sollen in England so gut wie alle restlichen Restriktionen fallen. Trotz steigender Zahlen und trotz Delta-Variante. Premierminister Boris Johnson kann auf eine erfolgreiche Impfkampagne verweisen. Knapp 87 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in England ist laut Regierung mindestens einmal geimpft, 65 Prozent sogar doppelt.

    Diesen Fortschritt bei der Immunisierung nennt Johnson als Grund dafür, dass der „Link“ zwischen der Zahl von Infektionen und Toten „getrennt“ worden sei. Dass sich Menschen also noch infizieren würden, schwere Krankheitsverläufe aber deutlich seltener seien. Die Fakten scheinen diese These zu stützen. Trotz der hohen Fallzahlen (32.551 Fälle am Donnerstag) ist die Zahl der Toten im Vereinigten Königreich im Vergleich zu den vorherigen Corona-Wellen gering.

    Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Problematik mit der Pandemie bei den Spielen im Wembley-Stadion kein großes Thema ist, dass sich die Zuschauer in Sicherheit wähnen. Ein anderer Grund ist vermutlich dieser: Wenn eine Europameisterschaft stattfindet, abgesegnet von Verbänden, Behörden, Regierungen, wenn so viele Zuschauer zugelassen sind wie seit Beginn der Pandemie im März des vergangenen Jahres nicht mehr, und wenn die eigene Mannschaft dann auch noch historisch gut spielt – dann ist es menschlich, dass sich die Fans dem Rausch auch hingeben. So zumindest empfinden es viele hier.

    Die Einhaltung irgendwelcher Abstände in Wembley ist utopisch

    Für deutsche Betrachter sind die Zustände in London eine Parallelwelt. Die Züge der U-Bahn zum Stadion im Nordwesten der Stadt sind überfüllt, die Maskendisziplin ist mäßig. Steigt man an der Station „Wembley Park“ aus, liegt vor einem der Olympic Way, eine Straße wie mit dem Lineal gezogen, die zur Arena führt. Sie ist vor den Spielen gefüllt mit tausenden Menschen. Es wird gesungen und getanzt, Gruppenfotos werden gemacht, mit Wembley und seinem ikonischen Riesenbogen im Hintergrund.

    Vor dem Finale am Sonntag gegen Italien ist selbst der Regierungssitz des englischen Premierministers im Fußballfieber.
    Vor dem Finale am Sonntag gegen Italien ist selbst der Regierungssitz des englischen Premierministers im Fußballfieber. Foto: Tayfun Salci, dpa

    Die Einhaltung irgendwelcher Abstände ist utopisch. In den Gesängen und der Musik aus allen Richtungen haben es die Lautsprecherdurchsagen schwer, mit denen die Zuschauer aufgefordert werden, den Nachweis über ihren negativen Corona-Test oder eine doppelte Impfung bereitzuhalten.

    Man gewöhnt sich allerdings an die englischen Zustände. Kollegen, die schon seit EM-Beginn in London stationiert sind, gehen deutlich gelassener mit der gelebten Freiheit um als solche, die erst zu den Halbfinals angereist sind und das Treiben mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Beklemmung sehen.

    Wie verheerend die EM für das Infektionsgeschehen in Europa ist, wird sich vermutlich erst hinterher seriös sagen lassen. Doch viel deutet darauf hin, dass das Turnier ein Infektionstreiber ist. Die europäische Gesundheitsbehörde ECDC hat bisher mehr als 2500 Ansteckungen gezählt, die im Zusammenhang mit der EM stehen.

    Die ersten Corona-Studien zur EM liegen schon auf dem Tisch

    Am stärksten betroffen ist demnach Schottland mit fast 2000 Fällen. In Finnland wurden 436 Fälle registriert, nachdem die finnische Nationalmannschaft zwei ihrer drei Gruppenspiele in St. Petersburg absolviert und das Virus möglicherweise von dort mitgebracht hatte.

    Eine Untersuchung des Imperial College in London kam zu dem Schluss, dass das Risiko einer Infektion bei Männern um ein Drittel höher ist als bei Frauen. Möglicherweise ist daran das EM-Turnier schuld. „Es könnte sein, dass das Fußballschauen dazu führt, dass Männer sozial aktiver sind als sonst“, sagte Studienautor Steven Riley dem Sender BBC.

    Die gute Nachricht lautet aus Sicht derer, die sich Sorgen machen wegen der Pandemie und der EM: Es ist fast geschafft. Ein Spiel noch, das Finale an diesem Sonntag. Die schlechte Nachricht ist: Egal, ob England oder Italien Europameister wird – die Euphorie dürfte im Land des Siegers keine Grenzen kennen. Und damit wohl auch keine Vorsicht vor dem Virus.

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