Es war schon weit nach Mitternacht, Reinigungskräfte fegten am Sportforum bereits den Unrat zusammen, den Fußballfans oft hinterlassen, als Reporter immer noch meinten, sie müssten Interviews führen. Tatsächlich hatten sich kroatische Anhänger bereit erklärt, über ihre Gefühle zu sprechen, doch als einer versuchte, die Geschehnisse in Worte zu kleiden, brach er vor der Leipziger Arena gleich wieder in Tränen aus. Insbesondere Frauen, die sich karierte Kunstwerke auf die Wangen geschminkt hatten, sahen hinterher beinahe so aus, als hätten sie das Ableben eines Angehörigen betrauert. Aber fühlte es sich nicht ähnlich an?
Der Fußball bezieht seine Faszination aus der Überhöhung, aber nur mit dem Wesenskern dieser Nation, der Bedeutung der letzten Turniere für das Selbstwertgefühl Kroatiens war das Drama gegen Italien (1:1) erklärbar. Es sagt sich leicht, dass sich ein Gegentreffer in der achten Minute der Nachspielzeit wie ein Stich ins Herz anfühlt – wo die weit mehr als 25.000 Kroaten standen, war genau dieser Zustand spürbar. Schock. Stille. Entsetzen.
Mattia Zaccagni schießt die Kroaten ins Tal der Tränen
Der wunderbare italienische Abwehrspieler Riccardo Calafiori, der in seinen Bewegungen Franz Beckenbauer ähnelt, aber im Achtelfinale gegen die Schweiz in Berlin (Samstag 18 Uhr) nun gesperrt ist, hatte bei seinem finalen Vorstoß den Ball zum eingewechselten Mattia Zaccagni gelegt, der die Kugel kunstvoll ins Eck schlenzte. Ausgleich in der allerletzten Aktion, was alles veränderte. Italien und Kroatien tauschten in der Gruppe noch die Plätze. Nicht nur der machtlose Torhüter Dominik Livakovic ging in die Knie, sondern auch Josip Stanisic, der Doublegewinner von Bayer Leverkusen.
Auf der Bank sackte Luka Modric zusammen, weil der 38-Jährige das tragische Ende nicht begreifen konnte. Als er nach 80 Minuten bei einem Spiel ging, das wie seine Wiedergeburt gewirkt hatte, hatte ihm gefühlt die ganze Heimat applaudiert. Wer erst einen Elfmeter verschießt, weil der italienische Teufelskerl Gianluigi Donnarumma sich der Form vom Titelgewinn vor drei Jahren nähert, dann 31 Sekunden später im Nachsetzen doch das 1:0 erzielt (55.), der hat eigentlich genügend Stoff für eine Heldengeschichte geliefert. Doch nicht immer geht‘s im Sport gerecht zu – genauso wie im Leben. "Leider war der Fußball grausam zu uns. Manchmal sorgt er für große Freude, mitunter für große Enttäuschung. Wenn man auf diese Art verliert, ist es schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich finde es unfair, dass wir so ausscheiden", beschied Modric, der im Tiefparterre gleich doppelt irrte.
Denn der WM-Dritte hatte weder verloren noch war er zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschieden. Der 38-Jährige nahm als ältester Torschütze der EM-Geschichte mit geröteten Augen die Auszeichnung zum "Man of the Match" entgegen, ehe ein italienischer Reporter eine leidenschaftliche Eloge auf sein Lebenswerk verfasste. Da huschte ein Lächeln über das Gesicht des Altstars, der nach einem kurzen Dank ("Grazie") verriet, er würde sich am liebsten wünschen, "ewig auf dem Platz stehen". Nur irgendwann müsse man aufhören, „wann das ist, weiß ich noch nicht".
Die bitterste Stunde der kroatischen Mannschaft wäre ein unwürdiger Moment gewesen. "Es gibt Tage, wo alles schieflaufen kann. Was wir jetzt erlebt haben, wird in Wochen und Monaten noch weh tun", klagte sein Trainer Zlatko Dalic. Der Kroate war in schlabbriger Trainingshose gekommen, und weil offenbar keine Etikette mehr zählte, tischte der 57-Jährige noch eine Verschwörungstheorie auf. Schon die Fifa habe im Spiel um den dritten Platz bei der WM 2022 gegen Marokko zu lange nachspielen lassen, jetzt passiere bei der Uefa dasselbe: "Die acht Minuten Nachspielzeit waren auf keinen Fall berechtigt. Wir sind eine kleine Nation. Mich nervt, dass Kroatien nicht respektiert wird. Passiert das bei Spanien, Portugal oder Italien?"
Italiens Trainer Luciano Spalletti fühlt sich in seiner Ehre gekränkt
Vorher hatte an selber Stelle der Kollege Luciano Spalletti ebenfalls seine gute Kinderstube vergessen. Statt glücklich übers Comeback, schien der "Commissario Tecnico" auf Krawall gebürstet. Auf die Frage, ob denn die Taktik der "Squadra Azzurra" mit Dreierkette einer Idee mit seinen Spielern entsprungen wäre, reagierte der 65-Jährige, als hätte ihm jemand in der Familienehre gekränkt. In seinem beleidigenden Monolog belehrte der Coach, dass er doch 14 Jahre älter als der Journalist sei und besser Bescheid wisse. Es sei überdies unerhört, wenn Interna nach außen dringen würden. Hatte das jemand überhaupt behauptet? Tat aber irgendwie nichts zur Sache. Die Emotionen fuhren halt Achterbahn. Noch die ganze Nacht. Überall.