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Fußball-EM 2021: Englischer Journalist: "Die Schwäche bei Elfmeterschießen wurde Teil unserer Identität"

Fußball-EM 2021

Englischer Journalist: "Die Schwäche bei Elfmeterschießen wurde Teil unserer Identität"

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    Englands Chris Waddle beschloss mit seinem Schuss über das Tor das Elfmeterschießen 1990 gegen Deutschland. Seitdem verfolgt die Briten die Angst vor der ultimativen Entscheidungsfindung. Zuletzt haben sie allerdings Fortschritte gemacht.
    Englands Chris Waddle beschloss mit seinem Schuss über das Tor das Elfmeterschießen 1990 gegen Deutschland. Seitdem verfolgt die Briten die Angst vor der ultimativen Entscheidungsfindung. Zuletzt haben sie allerdings Fortschritte gemacht. Foto: Witters

    Seit 1990 hat England bei großen Turnieren sechs Elfmeterschießen verloren. Warum kann

    Das ist Ben Lyttleton

     Lyttleton hat das Buch "Elf Meter – Die Kunst des perfekten Strafstoßes" geschrieben.

    Er arbeitet als Autor in England und schreibt unter anderem für "The Times" und "The Daily Telegraph"

    Ben Lyttleton: Nach jeder dieser Niederlagen hieß es bei uns: Elfmeterschießen ist eine Lotterie, wir hatten einfach Pech. Aber das stimmt nicht. Es gibt Wege, wie man die Erfolgschancen im Elfmeterschießen erhöhen kann. Man kann Elfmeterschießen trainieren. Das ist in der Vergangenheit nicht passiert. Zumindest nicht so, dass es sinnvoll gewesen wäre. Es gab Bilder vom Training, wie die Spieler mit dem Ball am Fuß an der Strafraum-Linie stehen, zum Elfmeterpunkt dribbeln und den Ball ins Netz dreschen. Das hat nichts mit einem richtigen Elfmeterschießen zu tun. Man simuliert nicht den Gang zum Elfmeterpunkt, die Müdigkeit in den Beinen nach 120 Minuten, die Drucksituation. Dabei sind diese Dinge wichtig.

    Bei der WM in Russland vor drei Jahren hat England zum ersten Mal seit 1996 wieder ein Elfmeterschießen gewonnen, im Achtelfinale gegen Kolumbien. Was hat sich verändert?

    Lyttleton: Gareth Southgate und sein Trainerteam haben erkannt, dass ein Elfmeterschießen mehr als Glückssache ist. Sie haben wahnsinnig viel Zeit investiert, um Elfmeterschießen zu analysieren und mit den Erkenntnissen zu arbeiten. Ein Beispiel: Untersuchungen haben gezeigt, dass England seine Elfmeter in der Vergangenheit immer hastig geschossen hat. Sobald der Schiedsrichter pfiff, liefen die Spieler los, wie ein Sprinter beim Startschuss. Dabei ist doch klar, dass man, wenn man eine Sache hastig macht, sie viel ungenauer ausführt als wenn man sich Zeit nimmt.

    Solche Dinge hat Southgate seinen Spielern vermittelt?

    Lyttleton: Genau. Wenn man sich jetzt Englands Elfmeter anschaut, dann sieht man, dass die Spieler nach dem Pfiff des Schiedsrichters immer ein paar Sekunden warten, bevor sie anlaufen. Ein weiteres Beispiel: Früher wurden die Schützen oft spontan bestimmt. Sie mussten sich dann in der Situation entscheiden, wie und wohin sie ihren Elfmeter schießen. Das ist heute alles schon vorher klar. Die Spieler wissen vor dem Spiel, dass sie eventuell einen Elfmeter schießen müssen, sie wissen vorher, wie sie ihn schießen –und können sich dann, wenn es soweit ist, ganz auf die Ausführung konzentrieren.

    Gareth Southgate (l) verschoss 1996 den entscheidenden Elfmeter.
    Gareth Southgate (l) verschoss 1996 den entscheidenden Elfmeter. Foto: Bernd Weissbrod, dpa

    Southgate musste auf die harte Tour lernen, was es bedeutet, einen wichtigen Elfmeter zu verschießen – im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland.

    Lyttleton: Genau, er weiß aus eigener Erfahrung, was lange bei uns falsch gelaufen ist. Er musste spüren, was es bedeutet, der Sündenbock der Nation zu sein. Das alles hat er genutzt. Egal, was er als Nationaltrainer noch erreicht – sein größtes Verdienst ist, dass er uns von unserem nationalen Trauma bei Elfmeterschießen befreit hat. Das war es wirklich: ein Trauma. Das hat übrigens viel mit Deutschland zu tun.

    Warum?

    Lyttleton: Unsere ersten beiden Niederlagen im Elfmeterschießen gab es gegen Deutschland – in den Halbfinals der WM 1990 und der EM 1996. Wäre das gegen, sagen wir, die Schweiz oder Griechenland passiert, hätten die englischen Medien gesagt: Ok, wir sind nicht besonders gut im Elfmeterschießen, aber das nächste Mal gewinnen wir. Aber weil es Deutschland war, der große Rivale aus unserer Sicht, wurden die Niederlagen zu eine Sache gemacht, die über den Sport hinaus ging. Es war fast, als hätten wir im Krieg verloren. Unsere Schwäche bei Elfmeterschießen wurde Teil unserer sportlichen Identität. Das war schädlich. Die Spieler hatten bei jedem Turnier Angst: Hoffentlich gibt es kein Elfmeterschießen, hoffentlich werde ich nicht zum Sündenbock. Southgate hat das gedreht. Wir haben jetzt zwei Elfmeterschießen nacheinander gewonnen

    Zwei?

    Lyttleton: Ja, bei der WM 2018 – und ein Jahr später, beim Spiel um den dritten Platz bei der Nations League gegen die Schweiz. Die

    Das heißt: Sollte es am Dienstag im EM-Achtelfinale gegen Deutschland Elfmeterschießen geben, gewinnt England?

    Lyttleton: Es gibt den berühmten Spruch von Gary Lineker, dass am Ende immer die Deutschen gewinnen würden. Falls es Elfmeterschießen gibt, habe ich das Gefühl, dass sich das ändern könnte. Ganz sicher kann man sich natürlich nie sein. Aber auf jeden Fall können wir sagen, dass wir bestmöglich auf ein Elfmeterschießen vorbereitet sind – das war in der Vergangenheit anders.

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