Dass er sich von öffentlichen Meinungen zu sehr beeinflussen lassen würde, kann man über Joachim Löw nun wirklich nicht sagen. Einen erneuten Beweis dafür lieferte der Bundestrainer mit der Mannschaftsaufstellung gegen Portugal. Während die Nation nach der ernüchternden Vorstellung gegen Frankreich einen Systemwechsel (weg mit der Dreierkette, her mit der Viererkette!) und einen Personalwechsel (Kimmich ins Mittelfeld! Havertz auf die Bank!) gefordert hatte, änderte Löw exakt: nichts. Gegen den aktuellen Europameister lief jene Elf auf, die auch gegen Frankreich beginnen durfte. Eine Aufstellung wie ein trotziges „Werdet schon sehen, dass das funktioniert.“ Und das sollte es - dank eines anderen Auftretens und eines überragenden Robin Gosens, der ein Tor und zwei Vorlagen sammelte. Am Ende stand ein 4:2-Sieg im zweiten Gruppenspiel.
Deutschland gewinnt ohne Systemwechsel gegen Portugal
Den Kritikpunkt, dass die aus drei Innenverteidigern bestehenden Dreierkette dem Mittelfeld zu viel kreatives Potential abzieht, wollte die deutsche Elf sichtlich entkräften. Tatsächlich entwickelte die deutsche Mannschaft von Beginn an einen merklichen Offensivdruck - und ließ die Zuschauer nach fünf Minuten erstmals jubeln: Robin Gosens hatte eine Ginter-Flanke verwertet. Die Zeit schien aber noch nicht reif für dessen erstes Turnier-Tor zu sein: Schiedsrichter Taylor aus England verwehrte dem Tor wegen einer vorangegangenen Abseitsstellung von Gnabry die Anerkennung. Kai Havertz prüfte Patricio mit einem Distanzschuss. Der Schlussmann konnte nur abklatschen, für den zweiten Ball war Gnabry zu spät dran (9.). Kroos hatte nach Zuspiel von Gosens aus 13 Metern ebenfalls eine gute Schusschance, traf den Ball aber nicht richtig. Beinahe im Minutentakt kam die DFB-Elf in dieser Phase nun zu gefährlichen Szenen im Strafraum.
Und Portugal? Der tief stehende Europameister sah sich das eine Viertelstunde an - und schlug dann humorlos zu. Nach einem Konter musste Superstar Cristiano Ronaldo auf Vorlage von Diogo Jota nur noch einschieben. Es war das erste Tor des 36-Jährigen gegen Deutschland und sein zwölfter Treffer bei einer EM. Ausgangspunkt war eine Ecke von Toni Kroos gewesen, die Ronaldo selbst abgefangen und gleich den Gegenzug eingeleitet hatte.
Ein Eigentor bringt Deutschland den Ausgleich
Es war ein Tor der Kategorie „Wirkungstreffer“. Der Schock über den überraschenden Gegentreffer war dem deutschen Team anzumerken. Nach einer halben Stunde hatte Deutschland zwar 65 Prozent Ballbesitz, aber eben auch 0:1 Tore gegen sich.
Ausgerechnet in einer Phase, in der der portugiesische Riegel immer undurchlässiger zu werden schien, fiel der deutsche Ausgleich: Der Aktivposten Gosens brachte einen Flankenwechsel von Kimmich direkt in den Strafraum, wo Kai Havertz wartete. Der Portugiese Ruben Dias wollte klären, schoss den Ball aber ins eigene Tor - das 1:1 (35.)! Jetzt war die deutsche Elf wieder voll in der Spur - und jubelte wenig später sogar über die Führung. Kurioserweise war auch das ein Eigentor: Eine Hereingabe von Müller konnte Havertz nicht verwerten. Kimmich erkämpfte sich den Ball aber auf Höhe der Grundlinie wieder. Sein Zuspiel traf den Fuß des Dortmunders Guerreiro, von dem aus der Ball ins Tor sprang (39.). Kurz vor der Pause hatte Deutschland durch Gosens (44.) und Gnabry, der sich stark im 1:1 durchgesetzt hatte (45.), sogar noch Chancen aufs dritte Tor.
Das fiel dann eben im zweiten Durchgang - und endlich war es ein eigener Treffer der DFB-Elf: Wieder mal war Gosens auf links sträflich frei gelassen worden. Der 26-Jährige machte das, was er im Verein (elf Tore und neun Vorlagen für Bergamo) auch macht: Er bereitete ein Tor vor. Sein schneller Ball für Kai Havertz brauchte diesmal keinen Umweg über einen portugiesischen Fuß machen. Stattdessen stellte der Chelsea-Spieler auf 3:1 (51).
EM-Spiel wird für Deutschland zur Gosens-Show
Kurz darauf zeigte Robin Gosens, dass er auch kopfballstark ist: Eine Flanke von Kimmich köpfte der Flügelspieler wuchtig zum 4:1 ein (60.). Das Spiel war nun endgültig zur Gosens-Show geworden. Bei seiner Auswechslung nach 62 Minuten feierte das Publikum den platten Atalanta-Kicker mit Sprechchören.
Spätestens jetzt musste die portugiesische Mannschaft auf einmal selbst etwas für das Spiel tun, was im Matchplan von Trainer Fernando Santos ohnehin nur äußerst selten vorkommt. Sie tat es in Form eines Freistoßes, den Ronaldo ins Zentrum beförderte und Diogo Jota bediente. Der verkürzte auf 4:2 (67.). Die Taktik, nun selbst tief zu stehen und auf Konter zu setzen, ging für Deutschland nur bedingt auf: Der eingewechselte Ex-Bayern-Spieler Renato Sanches traf den Innenpfosten und hatte Pech, dass der Ball nicht ins Tor, sondern zurück ins Feld sprang (78.). Letztlich blieb es aber bei dem 4:2.
Mit dem Sieg hat das Löw-Team das Weiterkommen nun selbst in der Hand. Vor dem letzten Gruppenspiel haben zwar alle vier Mannschaften die Chance aufs Weiterkommen - die DFB-Auswahl hat mit dem Heimspiel gegen Ungarn aber einen machbaren Gegner bekommen, während Portugal und Frankreich aufeinandertreffen.