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Fußball-Bundesliga: Das Leid Gelsenkirchens: Erst stieg der Bergbau ab, jetzt wohl Schalke 04

Fußball-Bundesliga

Das Leid Gelsenkirchens: Erst stieg der Bergbau ab, jetzt wohl Schalke 04

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    Der FC Schalke 04 hat einen Baustopp erlassen.
    Der FC Schalke 04 hat einen Baustopp erlassen. Foto: Guido Kirchner/dpa

    Plötzlich reißt der Himmel auf. Wolfgang Derks schaut nach oben. „Blau und weiß“, sagt er und strahlt. Es ist ein eigentlich trüber Tag. Ganz so, wie es zur Stimmung in Gelsenkirchen passt, auch wenn Schalke gerade mit 1:0 gegen den FC Augsburg gewonnen hat. Es ist der erst zweite Sieg in dieser Bundesliga-Saison. Kurzzeitig zeigt sich an diesem April-Nachmittag die Sonne. Schnell aber schieben sich wieder die Wolken davor. Vorbei mit blau-weiß. Wohl auch bald in der Bundesliga.

    Derks steht auf der Schalker Meile. Der offizielle Name ist Kurt-Schumacher-Straße, sie führt hier zweispurig aus dem Zentrum von Gelsenkirchen nach Schalke. Jenem Stadtteil, der Gelsenkirchen so richtig bekannt macht. Hier spielt einer der schillerndsten Klubs der Bundesliga. Der FC Schalke 04 gehört zu Deutschlands Fußballelite, wie der Bergbau jahrzehntelang Teil von Gelsenkirchen war.

    Fans haben sich mit Abstieg abgefunden

    Bergbau und Fußball, das hat die Stadt im Ruhrgebiet geprägt. Mit dem Bergbau ist es schon seit etlichen Jahren vorbei, nun taumelt auch noch der Fußball in Richtung zweite Liga. Das so stolze Schalke 04 also bald gegen Erzgebirge Aue und Heidenheim? Wolfgang Derks kratzt sich an der Stirn. Es ist ein Gedanke, der ihm nicht gefällt. Er blickt nach oben, nun wieder auf dunkle Wolken. „Wir haben uns damit abgefunden“, sagt der 71-Jährige. Es klingt ein klein wenig resigniert. Wer mag, kann auch Trotz heraushören. „Im Herzen bleiben wir immer Schalker“, sagt er.

    Wie er denken viele. Nicht nur im Ruhrgebiet, in ganz Deutschland. Schalke gehört in die Erste Liga. Da herrscht Einigkeit. Wohl selbst beim ungeliebten Nachbarn aus Dortmund, der zwar eine große Rivalität mit den Königsblauen pflegt, sie letztlich aber vermissen wird. Die Derbys, die das Ruhrgebiet elektrisieren. Eine Feindschaft ist aber nur gut, wenn sie auf Augenhöhe ist. Doch davon ist nichts mehr übrig. Dortmund hat sich im Spitzenfeld etabliert. Schalke blickt in den Abgrund. Da hilft auch der Sieg gegen Augsburg nichts mehr.

    „Einige werden jetzt wahrscheinlich wieder träumen“, sagt Derks. Vor sechs oder sieben Spieltagen hatte der Rentner auch noch Hoffnung. Eine Siegesserie, dann wäre das Wunder von Gelsenkirchen vielleicht noch möglich gewesen. Jetzt dürfte es zu spät sein.

    2002 wurde die letzte Zeche stillgelegt

    Derks ist Vorsitzender des Fanklubs „Kuzorra's Enkel - GE". Die Stammkneipe der rund 150 Mitglieder ist das „Bosch“. Ein kleines Lokal in einem typischen Gebäude auf Schalke. Ein tristes Mietshaus mit vielen kleinen Wohnungen und Balkonen. Seit der Bergbau keine Jobs mehr bietet, ist alles noch trostloser geworden. 1846 hatten die Bohrungen nach Kohle begonnen. Ab 1880 wurden im Norden Gelsenkirchens die ersten Zechen gebaut. Die Stadt lebte lange Zeit gut davon. Bis die Stilllegungen Anfang der 1990er Jahre begannen. 2002 wurde mit der Zeche Ewald die letzte geschlossen, ein trauriger Tag für Gelsenkirchen.

    Fast 20 Jahre ist das her, die Stadt leidet noch heute darunter. Sie hat den Strukturwandel nicht geschafft. Viele Läden stehen leer, viele Menschen sind arbeitslos. Im März waren 20365 Menschen ohne Job, die Arbeitslosenquote betrug 15,6 Prozent. Gelsenkirchen gilt mit seinen 265000 Einwohnern als eine der ärmsten Städte in Deutschland. Eine Studie von 2019 besagt, dass das Pro-Kopf-Einkommen in Gelsenkirchen 16203 Euro im Jahr betrug. In München war es zu diesem Zeitpunkt mehr als doppelt so hoch.

    Der Kneipenwirt will unbedingt durchhalten

    Gelsenkirchen leidet. Umso wichtiger war und ist der Fußball. Für viele ist der FC Schalke der Rückhalt. Die große Liebe, für manche die einzige. Vor Spielen treffen sich alle im „Bosch“. Der Politiker von den Grünen, der Anwalt, aber auch der Arbeitslose. Sie alle trinken ihr Bier zusammen, dann fahren sie mit der Straßenbahn die gut zwei Kilometer zur Arena. „Wir sind wie eine große Familie. Hier werden viele Freundschaften geschlossen“, sagt Ronny Marcinkowski, dem die offizielle Fankneipe seit 16 Jahren gehört. Auch er leidet wegen Corona. Seit einem halben Jahr kann er nicht mehr öffnen. „Wir halten aber durch“, verspricht der 60-Jährige, „wir wollen hier wieder irgendwann zusammen feiern.“ Er ist überzeugt, dass auch nach dem drohenden Abstieg fast alle wieder da sind. „Das Stadion wird wieder voll werden“, sagt er.

    Wolfgang Derks (links) und Wirt Ronny Marcinkowski stehen vor dem Eingang der offiziellen FC-Schalke-Fankneipe „Bosch“.
    Wolfgang Derks (links) und Wirt Ronny Marcinkowski stehen vor dem Eingang der offiziellen FC-Schalke-Fankneipe „Bosch“.

    Über dem Eingang zu seiner Kneipe spannt sich ein Dach, daran hängt ein großes Schild mit dem Vereinsnamen: FC Schalke 04, in blauer Schrift auf weißer Tafel. Drinnen geht es rustikal zu. Viele Holzmöbel sind noch aus den Anfangszeiten in den 60er Jahren geblieben. Vor der Theke stehen Barhocker. Zwischen den Tischen hängen Plastikwände, sie dienen als Schutz in der Corona-Pandemie. Und: Wände voller Erinnerungen.

    Wolfgang Derks marschiert stolz durchs Lokal bis zu einer braunen Sitzbank. Eine kleine goldene Tafel ist auf die Rückenlehne geschraubt. Der Stammplatz von Ernst Kuzorra. „Hier hat er jeden Tag gesessen“, erzählt Derks.

    An den Häusern hängen die Bilder der alten Helden

    Ernst Kuzorra also, einer der Helden von Schalke 04. 1905 in Gelsenkirchen geboren, sechsmal deutscher Meister, einmal Pokalsieger, später Stammgast im „Bosch“. An ihn erinnern sie sich gerne. Ob es bei den Spielern aus der aktuellen Mannschaft auch irgendwann mal so sein wird? Sie werden eher als die Versager gelten, die den FC Schalke in den Abgrund gestürzt haben.

    Derks geht nach draußen, zurück auf die Schalker Meile. Er spaziert von Haus zu Haus. An vielen Fassaden hängen Bilder, im tristen Grau der Wände fallen sie kaum auf. Es sind die Fotos der Vereinshelden. Von unvergessenen Spielern aus unvergessenen Zeiten. Als Schalke tatsächlich mal Deutscher Meister war. Oder 1997 den Uefa-Pokal gewann. Oder 2011 letztmals den DFB-Pokal. Schalke hat Champions League gespielt, das ist noch nicht lange her. Schalke war Vizemeister 2018 hinter dem FC Bayern. Geblieben ist davon nichts.

    Eigentlich wollen Derks und Marcinkowski nicht mehr über das Erlebte reden. Die Saison ist hart. „Man kann die Saison nicht schön- reden“, sagt Marcinkowski. Die Mannschaft stehe zurecht am Tabellenende. Doch warum ist es so weit gekommen? „Woanders spielen die Spieler gut, wenn sie zu uns kommen, nicht mehr“, sagt er. Die konditionellen Schwächen können die beiden nicht verstehen. Als Profi körperlich kaputt nach 45 Minuten? „Das geht gar nicht“, sagt Derks. Schon gar nicht auf Schalke. Spielerische Schwächen verzeihen die Fans. Aber Kämpfen, das ist das Minimum. Das fordern sie. „Dafür kriegen sie mehr als genug Geld“, sagt Marcinkowski.

    Der Spielertunnel ist einem Stollen nachempfunden

    Er wohnt auf der Schalker Meile, nur wenige Meter von seiner Kneipe entfernt. Ist wie Derks in Gelsenkirchen geboren – also auf Schalke, wie man landläufig sagt? „Wir sind auf Kohle geboren und in Schalke. So heißt das bei uns“, erzählt der Rentner. Um der Mannschaft die Bergbau-Vergangenheit bewusst zu machen, ist der Spielertunnel in der Arena einem Stollen aus einer Zeche nachempfunden. „Glück auf“ ist der Schlachtruf. Das Glück aber hat den FC Schalke verlassen.

    Sicher, es gab andere Zeiten. Deutlich glücklichere. Als die Truppe im November 2017 nach einem 0:4-Rückstand noch ein 4:4 beim Derby in Dortmund holte, war der Jubel groß. Bei der Rückfahrt kam der Mannschaftsbus am „Bosch“ vorbei. Trainer Huub Stevens ließ den Bus anhalten. Die Spieler stiegen aus und feierten mit ihren Anhängern. Damals gehörte der Klub noch zu den big playern der Liga, wie der FC Bayern, Dortmund oder jetzt RB Leipzig. Die steigen normalerweise nicht ab.

    Christian Gross hat nicht mal alle Spieler gekannt.
    Christian Gross hat nicht mal alle Spieler gekannt. Foto: Annegret Hilse/dpa

    In dieser Saison aber läuft nichts normal in Gelsenkirchen. Es herrschen Chaos und Ratlosigkeit. Fünf Trainer – darunter aushilfsweise für ein Spiel Huub Stevens – haben sich auf der Bühne FC Schalke versucht, ihre Auftritte gingen allesamt daneben. Teils sogar krachend. Besonders sonderbar war das Engagement von Christian Gross. Der 66-jährige Schweizer kam unbedarft, er kannte nicht einmal alle Spieler der Mannschaft. Er war schnell wieder weg, ebenso wie Manuel Baum, der ehemalige Trainer des FC Augsburg.

    Tönnies schadet dem Verein sehr

    Und dann war da noch die Geschichte um Clemens Tönnies. 19 Jahre war er Aufsichtsratsvorsitzender. Der Verein hat lange von ihm profitiert, Tönnies hat Schalke aber auch geschadet. Vor allem durch seine rassistischen Äußerungen im August 2019. Beim Tag des Handwerks in Paderborn trat er als Festredner auf und empfahl, jährlich 20 Kraftwerke in Afrika zu finanzieren: „Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren.“ Der Aufschrei war deutschlandweit groß, nur der Verein handelte nicht entschlossen. Drei Monate ließ Tönnies zwar nach viel Hin und Her sein Amt ruhen, die Fans aber waren wegen des Lavierens geschockt. Mittlerweile ist Tönnies Geschichte, am 30. Juni 2020 legte er sein Amt als Aufsichtsratsvorsitzender nieder.

    Was wohl Ernst Kuzorra über dieses Chaos denken würde? Er hatte früher zusammen mit Stan Libuda, auch ein Held deutlich besserer Schalker Fußballzeiten, einen Zigarrenladen auf der Schalker Meile. Sie waren beide aus dem Volk. Der Zigarrenladen ist verschwunden, es sind neue Mieter eingezogen. Aber auch sie haben den Klub im Herzen.

    Gegenüber steht ein auffälliges Gebäude, das mit seiner Farbe so gar nicht in die Umgebung passt. Ein Investor aus den Niederlanden hat es vor wenigen Jahren gekauft und gelb streichen lassen. Die Fans waren erbost. Ausgerechnet gelb, die Farbe des verhassten Nachbarn. Sie bewarfen die Fassade mit blauen Farbbeuteln.

    Über Dortmund will keiner sprechen

    Dortmund, das ist die verbotene Stadt. So nennt sie zumindest Wolfgang Derks. Würde er Dortmund beim richtigen Namen nennen, er müsste für jedes Mal einen Euro Strafe zahlen. Das sind die Regeln in seinem Fanklub.

    Ein anderes Mitglied nimmt bei Fahrten in den Urlaub lieber einen Umweg in Kauf, statt durch Dortmund zu fahren. Das ist echte Feindschaft. So echt, wie die Liebe zum FC Schalke ist.

    Früher haben sie in der Kampfbahn Glückauf gespielt. Das große Eingangstor liegt nur wenige Meter neben dem „Bosch“. Marcinkowski hat einen Schlüssel für das ehemalige Stadion. Er nimmt seinen Hund an die Leine, zusammen gehen sie die wenigen Meter hinüber. Die alte Sitzplatztribüne steht noch, sie ist denkmalgeschützt. Die Stehränge sind verschwunden, Rasen bedeckt den Wall. Wo früher die Fußballschlachten vor bis zu 60.000 Zuschauern geschlagen wurden, liegt heute ein Kunstrasen. Bis Anfang der 1970er Jahre hat der FC Schalke hier gespielt, nun ist hier nur noch unterklassiger Fußball zu sehen. Der große Fußball ist weitergezogen in den Stadtteil Buer. Erst ins Parkstadion, heute in die Veltins-Arena.

    Die Liebe zum FC Schalke ist in Gelsenkirchen groß – hier bestens auf einem Balkon im Zentrum der Stadt zu sehen.
    Die Liebe zum FC Schalke ist in Gelsenkirchen groß – hier bestens auf einem Balkon im Zentrum der Stadt zu sehen.

    Sechs Trainingsplätze sind auf dem neuen Gelände entstanden, weitere Umbaumaßnahmen waren geplant. Schalke aber hat kein Geld, Baustopp. Den Verein drückt eine Schuldenlast von mehr als 200 Millionen Euro. Und doch wird er in der neuen Saison zu den Favoriten auf den Aufstieg zählen. Irgendwie freut sich Marcinkowski auch darauf. „Jetzt können wir endlich mal wieder Meister werden“, sagt der Kneipenwirt und lacht.

    „Dafür müssen wir aber Erster werden“, entgegnet sein Kumpel Derks. Die Schalker sind gebrannte Kinder. 2001 waren sie eigentlich schon deutscher Meister, ehe ihnen der FC Bayern die Schale noch aus der Hand riss. Meister der Herzen werden sie seitdem genannt.

    Der Enkel wird irgendwann die Dauerkarte bekommen

    Derks hat noch immer eine Dauerkarte für die Arena. Doch auch ohne Corona nutzt er sie nur selten, die Stadion-Besuche sind ihm zu beschwerlich. Er gibt sie oft weiter an Freunde. Zurückgeben aber wird er sie nicht. Er will sie für seinen Enkel behalten. Felix ist neun Jahre alt, bislang beschränkt sich sein Interesse am Fußball auf das Kicken im Garten mit dem Opa. Von Schalke 04 weiß er noch nichts. Das ist wohl auch besser so in dieser Saison.

    In der Arena haben sie extra eine Kapelle bauen lassen. Sie ist gefragt, zu normalen Zeiten gibt es kaum Termine. Man kann hier Hochzeit feiern oder seine Kinder taufen lassen. Oder für den FC Schalke 04 beten. Irgendwie hat aber auch das in dieser Saison nicht geholfen.

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