Die ganze Welt kennt diesen Ort, das Krankenhaus "Papst Johannes XXIII." in Bergamo. Es liegt am Stadtrand. Als Bergamo und Umgebung im März wie kaum eine andere Gegend in Europa von Covid-19 heimgesucht wurden, standen hier die Krankenwagen Schlange. Schreckensnachrichten drangen aus der Klinik. Tag und Nacht ertönten Sirenen in der Stadt.
Gleich neben dem Krankenhaus liegt der Trucca-Park. Den Sommer über ist hier ein Gastronomie-Zelt aufgebaut, Tische stehen auf dem Rasen. Die Gäste haben Gläser mit Aperol Spritz oder Bier vor sich stehen und starren auf eine Video-Leinwand. Sie sind jetzt ausgelassen und jubeln. Atalanta Bergamo hat mal wieder ein Tor erzielt.
Am Dienstagabend setzte sich die Mannschaft von Gian Piero Gasperini 1:0 gegen den FC Bologna durch und rückte zeitweise auf den zweiten Tabellenplatz vor. Es war der achte Sieg im zehnten Spiel nach dem Lockdown, zweimal spielte Atalanta Unentschieden. Italiens Mannschaft der Stunde kommt aus Bergamo. Ausgerechnet Bergamo, die Stadt, die im Frühjahr zum Symbolort für die Corona-Pandemie wurde, erlebt im Fußball seit Monaten einen ungeahnten Höhenflug. "La dea", die Göttin, wie sie den Klub in der Lombardei nennen, wird derzeit mit besonderer Inbrunst verehrt.
Es gibt sogar ein Gedicht über den Trainer
Stefano Corsi verfasst in der Lokalzeitung Eco di Bergamo regelmäßig Oden an seine Lieblingsmannschaft. Der ehemalige Lateinlehrer hat nicht nur Bücher über Atalanta geschrieben, etwa über die berühmte Nachwuchsabteilung, sondern sogar ein Gedicht über den Trainer. "Gasperini ist für uns, die wir Atalanta schon in der dritten Liga verfolgten, der Mann, der alles verändert hat", sagt Corsi.
Wenn man so will, füllt die Mannschaft zumindest ansatzweise das Loch, das Corona gerissen hat. 6000 Menschen sollen allein in der Provinz Bergamo an Covid-19 gestorben sein, die Verunsicherung ist weiterhin zu spüren. Der deutsche Außenverteidiger Robin Gosens sagte im März: „Es ist an Traurigkeit nicht zu überbieten, was bei uns gerade passiert.“
Kurz zuvor hatte Atalanta das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den FC Valencia im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion bestritten. 45 000 Menschen aus Bergamo und Umgebung feierten den unglaublichen 4:1-Sieg und lagen sich in den Armen. Virologen und Bergamos Bürgermeister Giorgio Gori waren sich später sicher, das Spiel sei eine „biologische Bombe“ gewesen und habe zur Ausbreitung des Virus geführt. Zwei Wochen später stiegen die Ansteckungen sprungartig an. „Das Erstaunliche ist, wie die Tragödie mit den historischen Erfolgen der Mannschaft zusammenfällt“, sagt Schriftsteller Corsi. Der Erfolg sei Trost. "Sogar die Großmütter erkundigen sich inzwischen nach den Ergebnissen."
Noch nie sammelte das Team 74 Punkte in der Serie A. Noch nie erzielte die Mannschaft mehr als 100 Tore in einer Saison. Nie zuvor spielte Atalanta in der Champions League, nach dem 4:3-Sieg im Rückspiel gegen Valencia ist die Mannschaft für die Runde der letzten Acht in Lissabon qualifiziert und trifft dort auf Paris Saint-Germain. Noch ein Sieg und das Provinz-Team steht im Halbfinale des wichtigsten Vereinswettbewerbs.
Gasperini, den sie in Bergamo "Gasp" oder "Gasperson" in Anlehnung an die Trainer-Legende Alex Ferguson nennen und der wie Ersatztorwart Marco Sportiello selbst an Covid-19 erkrankte, ist die Identifikationsfigur in der Stadt. "Atalanta kann Bergamo beim Neuanfang helfen", sagte der Coach und berichtete vom Gewichtsverlust einiger Spieler im März, den er auf psychologische Ursachen zurückführte.
Präsident Antonio Percassi war in den 70er Jahren noch selbst Spieler bei Atalanta. Heute ist der 67-Jährige einer der bekanntesten Unternehmer Italiens und will Gasperini einen Vertrag auf Lebenszeit anbieten. Der 62-Jährige denke darüber nach, heißt es.
Gasperini hat seine ganz eigenen Vorstellungen. Als er im Sommer 2016 nach Bergamo kam, sah es zunächst gar nicht gut aus. Sein fixes 3-4-2-1-System trug keine Früchte, am fünften Spieltag stand die Mannschaft auf dem vorletzten Platz der Serie A, es wurde bereits über den Rauswurf gemunkelt.
Gasperini hat Atalanta in die Champions League geführt
Gasperini kannte die Situation. Bei Inter Mailand war er 2011 nach fünf erfolglosen Spieltagen entlassen worden. "Dann kam die Oktoberrevolution", sagt Schriftsteller Corsi. Im Spiel gegen den SSC Neapel tauschte Gasperini einige Stammspieler gegen junge Talente aus, das Spiel endete 1:0 für Atalanta. Am Saisonende wurde Bergamo Tabellenvierter und nahm an der Europa League teil.
Seither nimmt man Atalanta auch in Europa ernst. Gasperini hat unbekannte Spieler wie Gosens, den Niederländer Hans Hateboer, den Schweizer Remo Freuler oder den Belgier Timothy Castagne zu begehrten Stars geformt. Dabei sind es vor allem das auf schnelle Außenverteidiger und extremes Pressing ausgerichtete System, das Früchte trägt. „Gegen Atalanta zu spielen ist wie zum Zahnarzt zu gehen“, sagte Trainer Pep Guardiola nach einem 1:1 gegen Manchester City.
"Was geschehen ist, können wir nicht vergessen, es hat unsere Leben verändert", sagt Gasperini über die Corona-Pandemie. Die Mannschaft habe die Leiden Bergamos verinnerlicht.
Als neulich beim Heimspiel die Hymne des ehemaligen Pooh-Sängers Roby Fachinetti gespielt wurde, der von der Auferstehung seiner Heimatstadt Bergamo singt, da standen sogar dem brasilianischen Verteidiger Rafael Toloi die Tränen in den Augen.
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