Geglänzt hatten freilich die anderen. Serge Gnabry, Marco Reus und Leroy Sané hatten mit ihrem Offensivwirbel beeindruckt, allein fünfmal hatte der Dreizack beim 8:0 (5:0) der deutschen Nationalmannschaft im EM-Qualifikationsspiel zugestoßen. Um diese zerstörerische Wirkung zu entfachen, bedarf es aber Zuarbeit. Und genau diese leistete Joshua Kimmich an diesem kurzweiligen Abend in der Mainzer Arena. Im Umbau des DFB-Teams kommt ihm eine tragende Rolle zu.
Mit seinen 24 Jahren zählt Kimmich nicht mehr zur Jugend, ist aber jung genug, um für den Umbruch in der nationalen Auswahl zu stehen. Auf und abseits des Platzes übernimmt der Profi des FC Bayern verstärkt Verantwortung. Dass er vom Rand ins Zentrum gerückt ist, bezieht sich nicht nur auf seine Position auf dem Spielfeld. Wobei gerade diese Maßnahme, Kimmich zum Strategen im Mittelfeld aufzubauen, der entscheidende Impuls gewesen sein dürfte. Davon profitiert er, aber auch das Team.
Deutschlands Devise gegen Estland: direkte Pässe, hohes Tempo
Als Rechtsverteidiger verrichtete Kimmich solide seine Arbeit, wirklich wohl fühlt er sich auf der „Sechs“. Ob er nun Ansprüche stelle, künftig auch in München unter Trainer Niko Kovac auf dieser Position zu wirken, darauf antwortete er grinsend: „Wenn der Trainer zugeguckt hat, dann weiß er, dass ich auf der Sechs spielen kann. Wenn nicht, weiß er es auch.“
Gegen die überforderten Esten waren weniger Kimmichs Qualitäten als giftiger Abräumer gefragt, vielmehr initiierte er Angriffe und Spielzüge. Die Idee des Aushilfsbundestrainers Marcus Sorg war klar zu erkennen: wenig Ballkontakte des Einzelnen, direktes Passspiel, Anspielstationen durch permanente Positionswechsel. Spieler wie Sané, Reus, Goretzka oder eben Kimmich bringen das technische Rüstzeug mit, um Bälle in höchstem Tempo verarbeiten zu können.
Nach der WM 2014 war die deutsche Nationalmannschaft in einer Krise
Mindestens so bedeutend wie die fußballerischen Fähigkeiten ist der Geist, der in einer Mannschaft lebt. Dieser ist nach dem WM-Titel 2014 zusehends verschwunden, während der WM 2018 wart er gar nicht mehr gesehen. Kimmich kann den Wandel beurteilen, er war selbst am WM-Desaster in Russland beteiligt. In schwarzer Trainingsjacke und kurzer Hose betonte er jetzt, wie wichtig Harmonie für den Erfolg sei. „Jeder von uns ist gierig und hungrig, jeder gönnt dem anderen ein Tor, eine Vorlage und eine gute Leistung. Das ist etwas Besonderes.“ Gelinge es, die vorhandene Qualität mit Leidenschaft zu paaren, werde man noch viel Spaß haben, prophezeite Kimmich.
Die Hierarchien innerhalb des Teams haben sich verschoben, Hummels, Boateng und Müller hat Bundestrainer Joachim Löw aussortiert, Toni Kroos droht ein ähnliches Schicksal, nachdem Ilkay Gündogan, Kimmich und auch Goretzka sich mit ansprechenden Leistungen im zentralen Mittelfeld empfehlen. Torwart Manuel Neuer hat den Angriff Marc-André ter Stegens fürs Erste abgewehrt, doch selbst er kann sich nicht mehr seines Stammplatzes sicher sein.
Zufrieden durfte Teammanager Oliver Bierhoff mit dem Ende der Pflichtspielsaison sein. „Man spürt am Auftreten der Mannschaft, dass etwas zusammenwächst“, sagte der Verantwortliche. Den Auftritt gegen überforderte Esten wollte er aber nicht überbewerten, das Ergebnis wusste er einzuordnen.
Die Spiele in der EM-Qualifikation sind entscheidend für die deutsche Nationalmannschaft
Die Entwicklung entscheidend beeinflussen werden die kommenden Aufgaben in der EM-Qualifikation. Gegen die Niederlande und Tabellenführer Nordirland steht der Gruppensieg auf dem Spiel. Zugleich dienen die Begegnungen als Gradmesser.
Bierhoff erklärte, internationale Partien gegen schwere Gegner würden weiterhelfen. Kimmich sieht einen nächsten Schritt darin, Mannschaften wie Holland über 90 Minuten zu dominieren.
Wer sich auch äußerte, ob Bierhoff, Gündogan oder der einmal mehr überragende Reus, sagte, dass man sich auf einem guten Weg befinde – dieser Satz wiederholte sich.