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60 Jahre der Schmach sollen mit Tuchel ein Ende finden: Der WM-Titel 2026 ist das Ziel

Fußball

Thomas Tuchels Reise beginnt in Wembley

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    Verspürt viel Tatendrang als neuer Nationaltrainer Englands: Thomas Tuchel
    Verspürt viel Tatendrang als neuer Nationaltrainer Englands: Thomas Tuchel Foto: Alberto Pezzali, AP

    Die erste Nachricht als künftiger englischer Nationaltrainer sendet Thomas Tuchel standesgemäß aus dem Londoner Wembley Stadion. Am Mittwoch veröffentlicht der englische Verband FA den halbminütigen Clip aus dem Stadion, das den vielleicht bekanntesten Namen des Weltfußballs trägt. „Hallo Leute, hier ist Thomas. Ich bin ein bisschen nervös, und ich bin in Wembley. Wo sonst?“, sagt Tuchel mit einem Lächeln. Nervosität sei aber ein gutes Zeichen, und zugleich fühle er sich „geehrt“, Englands Nationalteam zu übernehmen. Ab Januar, teilte der Verband mit, soll der deutsche Coach die „Three Lions“ betreuen. Der Vertrag läuft 18 Monate und endet nach der Weltmeisterschaft 2026. Die Zielsetzung ist klar - und auch Tuchel formuliert sie am Ende des Videos: „Lasst uns alles dafür tun, um den zweiten Stern auf das Shirt zu holen.“ Jeder Stern steht auf Nationaltrikots für einen Weltmeistertitel - den bislang einzigen holte das Mutterland des Fußballs 1966 im eigenen Land, im Finale gegen den Erzrivalen aus Deutschland.

    Nun soll ausgerechnet ein deutscher Trainer dafür sorgen, dass „sixty years of hurt“, die 60 Jahre währende Durststrecke, ein Ende finden. Ein Ausländer auf dem Posten des Nationaltrainers ist zwar nichts Neues: Der kürzlich verstorbene Schwede Sven-Göran Eriksson (Januar 2001 bis Juli 2006) und der Italiener Fabio Capello (Dezember 2007 bis Februar 2012) waren auch schon für Englands Nationalteam verantwortlich. Ein Deutscher ist dann aber offensichtlich noch etwas anderes. Das Nationalteam werde nun „von einem Trainer des größten Rivalen Englands“ geleitet, so der Mirror. Die Boulevardzeitung Daily Mail titelte sogar: „Ein schwarzer Tag für England“. Schließlich gelte im internationalen Fußball, so das Blatt, doch die Devise: „Unsere Besten gegen die Besten von anderen. England muss bis zum letzten Mann im Trikot englisch sein.“ Tja. Die Sun, ebenfalls im Boulevard beheimatet, schlug wie die meisten anderen Zeitungen aber wesentlich positivere Töne an: „Der englische Fußball sollte den explosivsten, dynamischsten, charismatischsten und schlaksigsten Trainer, der je in der Premier League für Furore gesorgt hat, wieder willkommen heißen.“ Unterstützung bekommt Tuchel zudem von königlicher Seite: Prinz William, der Schirmherr der FA, schrieb auf X: „Thomas, wir wünschen Dir viel Glück und stehen alle hinter Dir!“

    Thomas Tuchel in Wembley: Neuer Trainer für Englands Nationalteam

    Auch Tom Kershaw sieht die Sache etwas anders als seine Kollegen bei der Daily Mail. Er berichtet für die Times über Fußball und sagt: „Eigentlich sind nur diejenigen traurig, die finden, dass der Nationaltrainer ein Engländer sein muss. Alle anderen wissen: Tuchel ist einer der besten Trainer der Welt, vielleicht sogar unter den Top Fünf.“ Er würde die Stimmung als regelrecht optimistisch einschätzen, dass England nach dem Ende der Southgate-Ära einen der besten Trainer auf dem Markt bekommen habe. Kershaw sitzt an diesem Mittwochvormittag gerade am Bahnhof im schwäbischen Günzburg. Ein Regionalzug soll ihn nach Krumbach bringen, der Heimat von Tuchel. Der Reporter will sich dort auf Spurensuche begeben, den Ursprüngen Tuchels nachgehen. Dass das nicht so leicht ist, mussten schon Kollegen von ihm erfahren, die zu Tuchels Zeiten als Paris-Coach aus Frankreich nach Krumbach gereist sind. Tuchels Eltern wohnen in der 14.000 Einwohner fassenden Kleinstadt. Seine Mutter sitzt im Stadtrat - Presseanfragen lehnt sie ebenso höflich wie bestimmt ab. Große Kontakte in die Heimat pflegt Tuchel, der die Großeltern ab und an mit seinen beiden Töchtern besucht, nicht. Wer sich umhört, bekommt eine Mischung aus Distanz und Anerkennung zu spüren. „Ein brutal eigener Charakter“ sei Tuchel, sagte sein ehemaliger Mitspieler aus Ulmer Zeiten, Oliver Unsöld, vor einigen Jahren über ihn.

    Das bestreitet auch in England niemand. „Jeder in der FA kennt die Geschichten über ihn“, sagt Kershaw. Etwa den am Spielfeldrand ausgetragen Streit mit Tottenham-Coach Antonio Conte oder dem späteren Chelsea-Besitzer Todd Boehly. Mit dem Bayern-Patron Uli Hoeneß soll es öfter gekracht haben. Nun wurde bekannt, dass Hoeneß den Ex-Trainer intern als „Katastrophe“ bezeichnet hat. „Aber die Streitigkeiten mit Besitzern oder Sportdirektoren wird es in England nicht geben.“ Tuchel sei ein kritischer Geist, der dem Erfolg vieles unterordne. Auch die Aussicht auf Sympathien. Zudem – auch das gehört zur Geschichte – scheint Tuchel in England besser anzukommen als in seiner Heimat. Tuchel selbst sprach zum Ende seiner weniger erfolgreichen Phase selbst davon, dass er in England mehr geschätzt werde als in Deutschland.

    Beim FC Chelsea hat sich Tuchel die Bewunderung der englischen Fans verdient

    Der deutsche Journalist Raphael Honigstein lebt in London und kennt sich sowohl im deutschen als auch im britischen Fußball bestens aus. Tuchel, so Honigstein, sei unter den Fans des FC Chelsea, den er von Januar 2021 bis September 2022 trainierte, natürlich in erster Linie wegen des Erfolgs beliebt gewesen. Die „Blues“ machte er vom Krisenteam zum Champions-League-Sieger – aber nicht nur das.

    In Tuchels Zeit fielen die heftigen Sanktionen der britischen Regierung gegen den damaligen Klub-Boss, den Russen Roman Abramowitsch. „Er war in dieser Zeit Ansprechpartner, obwohl er nicht der Verantwortliche war. Er hatte schnell einen hohen Stellenwert innerhalb des Vereins – und das nicht nur, weil er viele Siege holte.“ Als unklar war, wie der zum Verkauf stehende Klub eine Auswärtsfahrt ins französische Lille stemmen sollte, gab sich Tuchel als Krisenmanager pragmatisch: Falls die Mannschaft weder per Flugzeug noch mit der Bahn anreisen könne, „werde ich einen Siebensitzer fahren“, sagte er auf einer Pressekonferenz im April 2022 und bekräftigte: „Ganz ehrlich, ich würde es tun. Sie können sich meine Worte merken, ich würde es tun, um dort anzukommen. Wenn ihr mich vor 20 oder 30 Jahren gefragt hättet, ob ich bereit wäre, zu einem Champions-League-Spiel zu fahren, hätte ich gesagt: ,Ok, wo muss ich wann sein?‘“ Es sind Eindrücke wie diese, die sich den Verantwortlichen des englischen Verbandes eingeprägt haben dürften.

    Journalist Raphael Honigstein: „Tuchel versprühte Witz und Charme“

    „Dazu präsentierte er sich in England eloquent, versprühte Witz und Charme“, erinnert sich Honigstein. Tuchel, das schätzen die Bewohner der Insel, beherrscht den „wit“, den feinen und hintergründigen Humor. Der war in Dortmund und Bayern zwar auch immer wieder zu spüren, wurde dort aber von den Streitereien überdeckt, die es mit den Vereinsoberen um Transfers und Ausrichtung gab. Lange hielt es Tuchel nirgendwo aus, auch in Paris krachte es oft mit Sportdirektor Leonardo. Da könnte die jetzige Situation ein Vorteil sein, schätzt Honigstein: „In der Nationalmannschaft wird er nicht mit Spielern zusammenarbeiten müssen, auf die er keine Lust hat – er beruft sie dann einfach nicht.“ Und die Sache mit dem Deutschen, der England trainiert? „Das ist schon ein Thema, weil es sich komisch anfühlt“, sagt Honigstein. „Aber es ist ja kein Tabubruch mehr.“ Zugleich habe es schlichtweg keinen gleichwertigen Kandidaten mit einem englischen Pass gegeben: „Das ist für den englischen Fußball natürlich ein Armutszeugnis.“ Dass das mit Tuchel funktioniert, könne er sich „sehr gut vorstellen“.

    Der erste öffentliche Auftritt Tuchels verläuft am Mittwochnachmittag: mindestens souverän. Mehrfach hebt der 51-Jährige heraus, wie geehrt er sich fühle und wie sehr er sich auf die Aufgabe freue. Dass sich viele Engländer einen Landsmann gewünscht hätten, könne er nachvollziehen und verstehen und fügt lächelnd an: „Sorry, aber ich habe nur einen deutschen Pass.“ Dass der Vertrag nur 18 Monate laufe, sei kein Problem: „Ich habe gute Erfahrungen mit 18 Monate langen Engagements gemacht“, sagt er augenzwinkernd mit einem Verweis auf seine Zeit beim FC Chelsea. Zugleich helfe diese relativ kurze Vertragslaufzeit dabei, den Fokus auf das große Ziel WM immer einzuhalten. Ohnehin habe ihn die Zeit beim Londoner Klub geprägt: „Ich habe an den englischen Fußball nur schöne Erinnerungen.“ Nun gehe es darum, ab Januar weitere schöne Erlebnisse folgen zu lassen– und die Zweifler zu überzeugen. „Wir werden sie mit Ergebnissen überzeugen.“

    Die richtigen Ergebnisse – das bedeutet nichts weniger als den Weltmeister–Titel. Sein Vorgänger Gareth Southgate hat die Latte hoch gelegt, stand mit den Three Lions im EM-Finale, drang bei der WM 2018 immerhin ins Halbfinale vor. Unter Tuchel soll die vielleicht talentierteste Mannschaft des Weltfußballs endlich die Krone holen. Auf dem X-Account des englischen Verbands sind die hohen Erwartungen fast zu greifen: Statt einleitenden Worten ist dort lediglich zu lesen: „The Thomas Tuchel era begins in January.“ Und Rio Ferdinand, einer der bekanntesten Ex-Nationalspieler des Landes, hat jetzt schon seinen Spaß an der Kritik, dass Tuchel kein Engländer sei. Alle Artikel, die dies bemängeln, werde er aufbewahren – um sie den Autoren dann unter die Nase zu reiben. „Wenn wir mit Tuchel eine WM oder eine EM gewinnen, feiern und jubeln die dann mit – und trinken dann auch ihre zwölf Bier.“

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