Vor der herrlichen Panorama-Kulisse des Zentralmassivs warf Tadej Pogacar einen flüchtigen Blick auf das Gelbe Trikot seines Rivalen Jonas Vingegaard, doch der Slowene muss sich noch gedulden.
Im Sekundenkampf auf dem Vulkan hat der zweimalige Tour-Champion auf der ultrasteilen Rampe zum legendären Puy de Dôme hinauf einen weiteren Nadelstich gesetzt, die Gesamtführung behauptete aber Vingegaard. "Das war ein guter Tag. Ich bin sehr glücklich, dass ich etwas Zeit herausholen und Jonas unter Druck setzen konnte", sagte Pogacar. Zuvor hatte er beim Tagessieg des kanadischen Ausreißers Michael Woods auf der zweiten Bergankunft der 110. Tour de France weitere acht Sekunden auf den Titelverteidiger gehamstert.
Pogacar nun 17 Sekunden hinter Vingegaard
Das Duell der beiden Superstars, die eine weitere famose Kletter-Show ablieferten, spitzt sich damit weiter zu und entwickelt sich zum hochspannenden Herzschlagfinale. 17 Sekunden beträgt der Vorsprung von Vingegaard noch auf Pogacar - und das nach 1625,2 Kilometern und neun Etappen. "Wir sind beide auf einem sehr hohen Level. Er war heute unheimlich stark und hat sich die Sekunden verdient. Ich bin froh, dass ich das Gelbe Trikot noch habe und denke, dass die Etappen noch kommen, die mir liegen."
Wie entfesselt war Pogacar den Berg der Champions hinaufgestürmt, Vingegaard kämpfte kurz dahinter aber um jede Sekunde. 1,5 Kilometer vor dem 1415 Meter hohen Gipfel setzte Pogacar eine seiner gefürchteten Attacken auf dem bis zu 18 Prozent steilen Anstieg. Vingegaard kämpfte verbissen um Anschluss - und hielt den Schaden in Grenzen. Damit hat sich Pogacar erneut in starker Verfassung gezeigt, nachdem er zum Auftakt in den Pyrenäen noch von Vingegaard düpiert worden war.
Den Tagessieg holte sich Woods, der mit 13 weiteren Fahrern früh ausgerissen war und am Ende das größte Stehvermögen hatte. Dahinter folgten der Franzose Pierre Latour und der Slowene Matej Mohoric. Deutsche Fahrer spielten bei der Tour-Rückkehr auf den Puy de Dôme keine Rolle. Bester Deutscher war nach der 13,3 Kilometer langen Kletterpartie mit durchschnittlich 7,7 Prozent Steigung der frühere Tour-Vierte Emanuel Buchmann, der in der Gesamtwertung 13. bleibt.
Macht Cavendish weiter?
Altstar Mark Cavendish bekamen die mehreren hunderttausend Radsport-Fans nicht mehr zu sehen, nachdem der Ex-Weltmeister am Samstag mit einem Schlüsselbeinbruch aussteigen und seinen Traum vom historischen 35. Etappensieg aufgeben musste. Der Brite hätte mit einem weiteren Tagessieg den legendären Eddy Merckx endgültig hinter sich gelassen. Womöglich kommt der 38-Jährige, der in diesem Jahr eigentlich seine Karriere beenden wollte, aber im nächsten Jahr noch einmal zurück. Sein Astana-Teamchef Alexander Winokurow hat ihm sofort einen neuen Vertrag angeboten.
"Ich selbst habe mir 2011 bei der Tour einen Oberschenkelbruch zugezogen, es sollte mein letztes Jahr sein. Aber ich wollte nicht so aufhören. Ich verlängerte und kämpfte im darauffolgenden Jahr um den Sieg bei den Olympischen Spielen in London", sagte Winokurow, der 2012 sogar vor dem Buckingham Palace Gold im olympischen Straßenrennen gewonnen hatte, der Sportzeitung "L'Equipe". "Mark hat den gleichen Geist, den gleichen Willen, sein ultimatives Ziel zu erreichen. Wir sind bereit, ihm diese Möglichkeit zu bieten. Aber er wird entscheiden."
Vorerst liegt Cavendish weiter gleichauf mit Merckx, der auf dem Puy de Dôme nie gewinnen konnte, auch weil ihm einmal ein Zuschauer einen Schlag in die Nierengegend versetzt hatte. Es war eine der vielen legendären Geschichten, die auf dem Anstieg geschrieben wurden. Wie auch das Ellbogen-Duell zwischen dem fünfmaligen Tour-Sieger Jacques Anquetil und dem ewigen Zweiten Raymond Poulidor, der seinen Rivalen zwar abhängte, aber Gelb um 14 Sekunden verfehlte.
Im Zeichen von Poulidor, dem 2019 gestorbenen Großvater von Klassikerspezialist Matthieu van der Poel, stand auch der Start der Etappe in Saint-Léonard-de-Noblat. Im einstigen Wohnort von "Poupou" legte Tourchef Prudhomme am Grab einen Kranz nieder, dazu wurde van der Poel vor dem Startschuss ein altes Rad seines Opas überreicht, was den Niederländer zu Tränen rührte.
Ruhetag am Montag
Als das Feld rollte, waren erst einmal die Ausreißer am Zug. Eine Gruppe von 14 Fahrern setzte sich ab und fuhr einen Vorsprung von über 14 Minuten heraus. Das reichte, um beim Schlussanstieg nicht mehr eingeholt zu werden.
Nach dem ersten Ruhetag am Montag wird die Tour am Dienstag mit der zehnten Etappe über 167,2 Kilometer von Vulcania nach Issoire fortgesetzt. Bei fünf mittelschweren Bergwertungen gibt es ein ständiges Auf und Ab im Zentralmassiv, was einer Ausreißergruppe entgegenkommen sollte.
(Stefan Tabeling und Tom Bachmann, dpa)