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Ein neues Leben

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Ein neues Leben

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    Ein neues Leben
    Ein neues Leben Foto: Andreas Schäfer

    Die Stadt hat viele große Söhne und eine reiche Geschichte zu bieten: Johann Liebieg baute von Reichenberg aus ein Textilimperium auf, allein hier hatte die „Johann Liebieg & Comp.“ über 5000 Beschäftigte. Im nahen Gablonz erlangten die Manufakturen zur Schmuck- und Glasherstellung Weltruhm. Ferdinand Porsche, der geniale Autokonstrukteur und Erfinder des Käfers, wurde im längst eingemeindeten Maffersdorf geboren. Ottfried Preußler, der sich die Geschichten vom Räuber Hotzenplotz, der kleinen Hexe und des Zauberlehrlings Krabat ausgedacht hat, stammt aus der Stadt. Und das Theater, das wie das Augsburger vom Wiener Architektenbüro Fellner & Helmer entworfen wurde, entstand Ende des 19. Jahrhunderts – wie auch zahlreiche andere Prestigebauten als Zeichen bürgerlichen Wohlstands.

    Reichenberg, diese einst aufstrebende Stadt, liegt in Nordböhmen – und seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es sie eigentlich nicht mehr. Die damals fast ausschließlich deutsche Bevölkerung wurde zum größten Teil vertrieben beziehungsweise umgesiedelt, der Namen in Liberec geändert. Heute wohnen in der fünftgrößten Kommune Tschechiens rund 100 000 Menschen. Etwa 3000 von ihnen haben deutsche Wurzeln.

    Mitten in Augsburg kann man heute noch das alte Reichenberg erleben. Im kleinsten Museum der Stadt gibt es viel über die Geschichte der Stadt und der Sudetendeutschen zu erfahren. Vor allem, wenn man mit Rudolf Simm, Urd Rothe-Seeliger und Hans Pieke, die sich alle im Verein Heimatkreis Reichenberg Stadt und Land engagieren, zusammensitzt.

    Der vierte Stamm Bayerns

    Auf dem Tisch stehen Kaffee und Kleckselkuchen, eine alte böhmische Spezialität. „Ich wohne in Waldkrainburg“, erklärt Hans Piek. „Dort gibt es einen sudetendeutschen Bäcker, der einmal in der Woche diesen Kuchen herstellt.“ Waldkrainburg, das ist eine von fünf bayerischen Vertriebenenstädten. 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mussten etwa drei Millionen Menschen ihre Heimat in Böhmen, Mähren und Schlesien verlassen. Diese vornehmlich deutschsprachigen Gebiete, einst Teil Österreich-Ungarns, ab 1918 Teil der Tschechoslowakei, waren 1938 aufgrund des Münchner Abkommens durch das Deutsche Reich annektiert worden.

    Nach Bayern kamen so viele Vertriebene, dass der Bayerische Ministerpräsident Hans Erhard 1954 die Schirmherrschaft des Freistaates über die Sudetendeutschen verkündigte und sie zum „vierten Volksstamm Bayerns neben den Altbayern, Schwaben und Franken“ erklärte.

    Viele Reichenberger, die in der Textilindustrie oder im Maschinenbau beschäftigt waren, sahen in Augsburg ein attraktives Ziel, weil sie hier Arbeit finden konnten. Etwa 30 000 Sudetendeutsche waren es, die in der zerbombten Stadt Zuflucht fanden – und viel zum Wiederaufbau beitrugen. Zehn Jahre nach Kriegsende übernahm Augsburg offiziell die Patenschaft über die ehemaligen Reichenberger. In der Urkunde ist explizit von den Gemeinsamkeiten der Städte die Rede: „Augsburg – ähnlich Reichenberg in der Art seiner gewerblichen Wirtschaft und der Zusammensetzung seiner Bevölkerung.“ Rund 20 Prozent der heute knapp 300 000 Augsburger sind haben sudetendeutsche Wurzeln. Die Patenschaft hat in Augsburg sichtbare Spuren hinterlassen – wie etwa den Reichenberger Brunnen vor dem Kongress am Park, die seit den frühen 1990er-Jahren durchgeführten deutsch-tschechischen Kulturtage und natürlich die Städtepartnerschaft zwischen Augsburg und Liberec. Und, ein bisschen versteckt in einer Wohnung eines stattlichen Hauses in der Konrad-Adenauer-Allee, ist da natürlich noch das kleinste Museum der Stadt, das von der Geschichte Reichenbergs berichtet.

    Die Kultur erhalten

    Inmitten alter Trachten und Hauben, Teeservicen, gemalten Stadtansichten, Modellen der Reichenberger Sehenswürdigkeiten und Kinderspielzeug erzählen die Vereinsmitglieder ihre Geschichten. Rudolf Simm, der in Reichenberg noch die Oberschule besucht hat, wurde im Juni 1945 vertrieben und kam über die Oberlausitz nach Thüringen. Sein Vater war in der Gablonzer Glasindustrie tätig gewesen und fand in Kaufbeuren Arbeit. Simm studierte später Lehramt und unterrichtete an Augsburger Gymnasien. Hans Pieke hat die Vertreibung als Fünfjähriger erlebt; er musste sich mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester auf einen 60 Kilometer langen Gewaltmarsch begeben. In den Häusern ihrer Familien leben seitdem Fremde, doch tragen sie diesen nichts nach. „Schon meine Eltern hatten die Einstellung: Was geschehen ist, ist geschehen. Die Gegenwart zählt. Aber unsere Aufgabe ist es, die Geschichte zu bewahren“, sagt Rothe-Seeliger.

    Das größte Anliegen des Heimatkreises ist folglich: Auch in 100 Jahren soll die eigenständige Kultur der Sudetendeutschen erhalten bleiben. Das Museum ist dabei ein wichtiger Baustein. Rudolf Simm führt Interessierte gerne kostenlos durch die Räume. „Kürzlich waren zwei Klassen der Wittelsbacher Grundschule aus dem Augsburger Antonsviertel hier“, erzählt er. Die Schule pflegt eine Partnerschaft mit einer Grundschule aus Liberec. „Kurioserweise befindet sich diese Grundschule in dem Gebäude, in dem früher das Reichenberger Gymnasium war. Dort bin ich zur Schule gegangen.“

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