Während der Freistaat Bayern noch bis November warten muss, ehe er sein 100-jähriges Bestehen feiern kann, hat der Handball hierzulande diese Marke schon hinter sich. Man schrieb das Jahr 1917, genau den 29. Oktober, als Mitglieder des Berliner Ausschusses für Frauen- und Mädchenturnen über Regeln für eine neue Sportart diskutierten. Schlussendlich griff ein Mann namens Max Heiser auf Elemente aus Hockey, Faust- und Fußball sowie anderer damals praktizierter Ballspiele zurück – und schuf den Handball.
Gedacht war das neue Spiel zunächst ausschließlich für Frauen und Mädchen. Da die Männer an der Front Dienst taten, war es am weiblichen Geschlecht, die Arbeiten in den Fabriken fortzuführen. Und mit Handball sollten sie dafür fit gemacht werden.
Nach Kriegsende entdeckten relativ schnell auch die Herren die junge Sportart für sich, die damals im Freien zumeist auf Fußballplätzen und mit elf Feldspielern ausgeübt wurde. So rief beispielsweise der BC Augsburg, Vorgängerverein des FCA, bereits 1927 eine Handballabteilung ins Leben. Und diese prägte – neben dem Fußball – lange Zeit den Verein sowie die Sportart in ganz Schwaben. Zahlreiche bayerische Titel wurde von Herren- und Damen-Mannschaften an den Lech geholt, etliche Nationalspieler entstammten den Teams aus der Fuggerstadt. Wie populär das Spiel mit dem kleinen Lederball war, beweisen die sage und schreibe 40 000 Zuschauer, die 1953 zum Feldhandball-Länderspiel Deutschland gegen Schweden ins Augsburger Rosenaustadion strömten.
Während die Deutschen sich ganz dem Feldhandball verschrieben hatten, entwickelte sich die Sportart im Ausland in eine andere Richtung, die sich schlussendlich durchsetzen sollte. Gerade die skandinavischen Länder verlegten das Spiel witterungsbedingt in die Halle – eine kleinere Spielfläche samt weniger Spielern war die Folge. Da auch osteuropäische Verbände diesem Beispiel folgten, war ein Paradigmenwechsel unausweichlich. Spätestens mit der Aufnahme von Hallenhandball in das Programm der Olympischen Spiele 1972 in München war das Ende des Großfelds besiegelt.
Vorrundenspiele des olympischen Turniers fanden damals auch in Augsburg statt. Die Partien in seiner Heimatstadt dürfte zu jener Zeit mit Sicherheit auch ein 15-jähriger Jungspund verfolgt haben, der später als Handballer des Jahrhunderts in die Geschichte eingehen sollte. Als der Stern des Feldhandballs unterging, kam die Karriere von Erhard Wunderlich ins Rollen. Früh blitzte im FCA-Dress das Können des 2,05-Meter-Hünen auf. So führte er ein Jahr nach Olympia die FCA-Jugend zur südbayerischen Hallenmeisterschaft. Und drei Jahre später sorgte er mit einer weiteren Glanzleistung für den Wendepunkt in seiner Karriere.
Der VFL Gummersbach kam 1976 als amtierender Deutscher Meister zu einem Testspiel nach Augsburg. Wunderlich spielte groß auf, warf sechs Tore und hatte hinterher einen Profivertrag bei den Nordrhein-Westfalen in der Tasche. Als Bayer im Westen Deutschlands bekam er den Spitznamen „Sepp“ aufgedrückt – und der Sepp dominierte fortan den Handball.
Kurze Zeit später feierte er sein Nationalmannschaftsdebüt und war zwei Jahre darauf – als jüngster Spieler des deutschen Teams – entscheidend am Gewinn des WM-Titels 1978 in Dänemark beteiligt. Dieser Triumph im Endspiel über die UdSSR gilt hierzulande bis heute als Sternstunde des Sports. Denn die Auswahl um den berühmt berüchtigten Trainer Vlado Stenzel durchbrach mit ihrem für beinahe unmöglich gehaltenen Sieg die Dominanz der Ostblockstaaten. Bis 1990 sollte es keinem westlichen Team auch nur gelingen, ein WM-Finale zu erreichen.
Für Wunderlich war die Sensation von Kopenhagen nur der Aufakt zu einer wahren Titelsammlung. Mit dem VfL Gummersbach errang er bis 1983 alle nationalen wie internationalen Titel und räumte in dieser Zeit je zweimal die Auszeichnungen als Torschützenkönig der Bundesliga sowie als Handballer des Jahres ab.
Sein Ex-Verein, der FC Augsburg, war da schon aus der Oberliga abgestiegen und hatte seine Vormachtstellung in Schwaben an einen Verein aus dem Westen des Bezirks abgeben müssen. Der VfL Günzburg stieg zur Saison 1980/81 in die 1. Liga auf und erreichte in jener Saison neben Platz acht im deutschen Oberhaus auch das Finale im DHB-Pokal. Obwohl es gegen TuS Nettelstedt nicht für den Titel reichte, durfte man in der darauf folgenden Spielzeit am Europapokal der Pokalsieger teilnehmen. Denn Nettelstedt hatte sich als Gewinner des Europapokals der Pokalsieger erneut für diesen Wettbewerb qualifiziert.
Auf europäischer Bühne schlugen sich die Westschwaben ausgezeichnet. Das Aus kam erst im Halbfinale gegen den ostdeutschen Vertreter des SC Empor Rostock. Zwei Jahre darauf musste man den Gang in die Zweitklassigkeit verkraften, stieg aber direkt wieder auf, um 1986 endgültig die Beletage des deutschen Handballs zu verlassen.
Erhard Wunderlich war da noch lange nicht von der großen Sport-Bühne verschwunden. Nach den Erfolgen mit Gummersbach verließ er nicht nur den Vorzeigeklub nahe Köln, sondern gleich das Land. Der FC Barcelona, damals schon eine Größe im Handball, lockte mit einem für damalige Verhältnisse unfassbaren Angebot: 2,5 Millionen Mark für einen Vierjahresvertrag. Als der Wechsel nach Spanien vollzogen wurde, gehörte die Meldung zu den Topnachrichten in der Tagesschau.
Während seiner Zeit in Katalonien holte Wunderlich mit dem Nationalteam bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles die Silbermedaille, im Dress des Weltklubs dagegen wurde er nicht glücklich. Nach nur einer Saison brach Wunderlich seine Zelte im Ausland ab und kehrte nach Deutschland zurück. Der damalige Zweitligist TSV Milbertshofen wurde seine neue Heimat. Schnell gelang der Aufstieg ins Oberhaus, bis 1989 blieb der Rückraumspieler beim Münchner Stadtteilklub, bevor er zum Zweitligisten Bad Schwartau weiterzog. Mit diesem kehrte er nochmals in die Bundesliga zurück, ehe er 1991 seine aktive Karriere beendete.
Dem Handball blieb er zunächst als Manager treu. Mit Milbertshofen feierte er die Vizemeisterschaft und den Gewinn des Europapokals der Pokalsieger, bei Bad Schwartau wurde er in gleicher Funktion aber relativ bald entlassen. Danach arbeitete er als Bürobedarfsunternehmer und Hotelbetreiber. 1999 erhielt er wohl die größte Ehrung seines Lebens: „Deutschlands Handballspieler des Jahrhunderts“.
Vor sechs Jahren erlag er schließlich einem schweren Krebsleiden. Posthum benannte seine Heimatstadt die Augsburger Sporthalle nach einem ihrer größten Söhne in „Erhard-Wunderlich-Sporthalle“ um.
„Er war ein Genie, er war der Beste, er war der Kompletteste“, sagte sein früherer Coach Vlado Stenzel einst über ihn. Und ergänzte: „So einer wird nur alle 100 Jahre geboren.“