Claudia Pechstein brauchte lange. Länger als die Olympiasiegerin Irene Schouten. Die Holländerin hatte ihre Interviews bereits hinter sich gebracht, mit dem Maskottchen Bing Dwen Dwen im Arm marschierte sie die Reihen ab. Immer durch ein Gitter mehrere Meter von den Fragestellern getrennt. Draußen war es schon längst dunkel, die Nacht hatte sich über Peking gelegt. Pechstein brauchte und brauchte. Sie wollte wohl jeden Moment noch einmal intensiv genießen. Erst kurz vor halb sieben, weit mehr als eine Stunde nach ihrem Finallauf, tauchte sie im Bauch der Eisschnelllauf-Arena zu den Gesprächen mit den Journalisten auf. Sie hatte sie lange warten lassen. Auch eine Art der Wertschätzung. Pechstein und die Medien, das passt nicht immer.
Neun Medaillen für Pechstein vom DOSB
Am Samstag hatte sie eine gute Ausrede. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hatte sie überrascht. Als Geste des Danks für so viel olympischen Eifer überreichte ihr Dirk Schimmelpfennig, Chef de Mission des deutschen Teams, neun Medaillen. Nicht ihre echten, die liegen in einem Safe einer Bank. „Da kommt keiner hin“, sagte Pechstein. In Händen hielt sie nun neun Plaketten, die sie an ihre olympischen Erfolge erinnern sollten. Sie hat schwer daran zu tragen. Obwohl nur nachgemacht, hatten sie ein ordentliches Gewicht. Verziert waren sie mit Motiven aus China: die Hauptstadt Peking, die chinesische Mauer oder das Maskottchen Bing Dwen Dwen, das ihr so gut gefällt.
Am Dienstag feiert Pechstein ihren 50. Geburtstag
Für Pechstein war es eine Überraschung. Mit einer solchen Geste hatte sie nicht gerechnet. Sie, die Rekordolympionikin mit acht Teilnahmen und neun Medaillen. Am Dienstag wird sie 50 Jahre alt. Die Abschlussfeier in Peking hatte sie ausgelassen, um rechtzeitig zu Hause zu sein. Eine große Party werde es aber nicht geben. Alleine schon wegen Corona. Am Samstag hatte sie noch einmal gezeigt, dass sie mithalten kann. Zwar nicht mit der Spitze, aber für einen neunten Platz hatte es gereicht. Pechstein ist stolz auf diese Leistung. „Ich wollte ins Finale, das Ziel habe ich erreicht. Und dann habe ich mir gedacht, noch einen Sprint zu gewinnen. Auch das habe ich geschafft, das ist ein runder Abschluss“, sagte sie. Dank des Sprints, der ihr drei Punkte brachte, schob sie sich auf Rang neun.
Als sie endlich bei den Journalisten angekommen war, über den Stolz auf ihre außergewöhnliche Karriere und das Rennen geredet hatte, kam natürlich die entscheidende Frage: Waren denn die Spiele in China nun das Ende ihre Olympischen Karriere? Eine nahe liegende Frage, die eigentlich mit einer klaren Antwort versehen werden kann. Nicht aber bei Claudia Pechstein. „Diese Schlagzeile gebe ich euch nicht“, sagte sie. Sie trug eine FFP2-Maske, darunter aber dürfte sie geschmunzelt haben. Nein, dieses Rätsel will sie nicht lösen an diesem Abend. „Ich schließe nichts aus. Mehr will ich dazu nicht sagen“. Pechstein, die Geheimniskrämerin.
Oder liegt es daran, dass sie, die mehr als 30 Jahre im professionellen Eisschnelllauf dabei ist, nun nicht weiß, was sie machen soll, wenn dieser Lebensinhalt plötzlich weg ist? Also wird Pechstein erst einmal weiterlaufen. In diesem Winter auf jeden Fall noch das Weltcup-Finale. Aber vielleicht auch darüber hinaus. Pechstein genoss den Moment, alle im Unklaren lassen zu können.
Bis heute kämpft Pechstein gegen ihr Dopingurteil
Kurz nach dem Wettkampf hatte sie bereits mit ihrem Lebensgefährten Matthias Große telefoniert, der praktischerweise auch Präsident der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft ist. Beide sind ein streitbares Duo in der Sportwelt. Pechstein erlebte 2009 ihre schwerste Zeit. Wegen auffälliger Blutwerte war sie gesperrt worden. Sie hält das Urteil nach wie vor für falsch und sieht sich durch spätere Untersuchungen rehabilitiert. Bei Große wird der Führungsstil kritisiert. Aber abbringen werden sich die beiden von ihrem Weg nicht lassen.
Um 17.10 Uhr hatte am Samstag ihre Olympische Karriere vermeintlich geendet. Als das Finale im Massenstart vorbei war. Dass sie in vier Jahren in Mailand noch dabei sein wird, davon ging kaum einer aus. Außer vielleicht Claudia Pechstein selbst. Zumindest sprach sie nicht von ihrem letzten Olympia-Rennen. Da blieb sie standhaft. Vielleicht erlebt sie tatsächlich ihre neunten Spiele noch einmal auf dem Eis. Auch wenn am Samstag vieles auf einen Olympischen Abschied hindeutete. Sie winkte eifrig ins Publikum. Vor den Rennen, aber auch danach. Sie fuhr auf einem Schlittschuh, um die Fans zu unterhalten. Viele hätten ihr in China zugejubelt. Das hat sie genossen. So wie jede Minute an diesem Tag. Zumindest bis sie verspätet in der Mixed-Zone aufgetaucht war.