Abgesehen von den Kontroversen rund um die Pandemie gibt es diese Tage viel zu feiern in Tokio. Nach den Olympischen Spielen, die wegen der Austragung trotz grassierender Infektionen höchst unbeliebt waren, stehen der japanischen Hauptstadt nun die Paralympics ins Haus. Beginn ist am heutigen Dienstag. Gesundheitspolitisch gelten hier dieselben Vorbehalte. Auf gesellschaftspolitischer Ebene aber ist das Internationale Paralympische Komitee (IPC) mal wieder zufrieden mit sich. Denn der Behindertensport breite sich weltweit immer weiter aus.
Einige Länder mussten Paralympics-Teilnahme wegen Corona absagen
Sofern positive Corona-Tests bei der Einreise nach Japan nicht allzu viel verhindern, werden um die 4400 Athletinnen und Athleten an den Spielen von Tokio teilnehmen. Trotz der widrigen Umstände wären das in etwa 200 mehr als 2016 in Rio, wo der letzte Höchstwert erreicht wurde. 158 Mitgliedsländer schicken Sportler, womit Tokio zwar etwas unter der bisherigen Bestmarke von 164 in London bleibt. Der Grund ist allerdings die Pandemie: Sportler aus 168 Ländern hatten sich qualifiziert, womit ein neuer Bestwert erreicht wäre. Doch wegen Quarantäneregeln bei der Durchreise auf dem Weg nach Tokio haben einige Länder ihre Teilnahme wieder abgesagt.
Alles in allem kann „Tokyo 2020“, wie sich auch die Paralympics nach der einjährigen pandemiebedingten Verschiebung weiterhin nennen, als eine weitere Rekordausgabe der größten Behindertensportveranstaltung der Welt gelten. Allerdings zeigen schon die coronabedingten Absagen, dass die Paralympics trotzdem nicht wirklich weltumspannend sind. „Es sind vor allem kleinere Länder aus Ozeanien, die abgesagt haben“, erklärt Craig Spence, Sprecher des IPC, auf Anfrage. „Für die Reise nach Japan hätten sie über Australien fliegen müssen, wo sie auf dem Hin- und Rückweg jeweils eine zweiwöchige Quarantäne erwartet hätte. Das konnten sich die Länder mit kleinen Delegationen, wie Vanuatu oder Fidschi, leider nicht leisten.“
Paralympics: Sieben Mitgliedsorganisationen wurden von Spielen ausgeschlossen
Hinzu kommt, dass sieben nationale Mitgliedsorganisationen von den Spielen ausgeschlossen worden sind, insbesondere, weil sie ihre Mitgliedsbeiträge nicht bezahlt haben. Beim IPC begründet man dies vor allem dadurch, dass diese Länder in letzter Zeit ohnehin keine Sportler auf Turniere geschickt hatten. Durch diverse Umstände sind laut IPC insgesamt 25 Länder, die eigentlich Nationale Paralympische Komitees haben, in Tokio nicht vertreten. „Es stimmt, dass dies vor allem ärmere Länder betrifft“, sagt Craig Spence.
Aber nicht nur die bloße Teilnahme offenbaren ein Gefälle zwischen Arm und Reich, das noch viel stärker ist als bei den Olympischen Spielen. Auch die Erfolge in den Wettbewerben dokumentieren dies. Bis auf China, das schon durch seine große Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen einen Vorteil hat, sind die zehn stärksten Nationen im historischen Medaillenranking ausschließlich postindustrielle Wohlstandsgesellschaften. Sie sind es auch, die die größten Delegationen schicken. Gemessen an ihren Lebensstandards schneiden zudem postsozialistische Staaten wie Polen, die Ukraine oder Usbekistan gut ab. Aber sie kommen nicht annähernd an die Erfolge reicher Länder heran.
Der wichtigste Grund dafür ist offensichtlich: Je ärmer ein Land ist, desto größer ist der Luxus, als Person mit einer Behinderung Sport zu treiben. Ein Sportrollstuhl kostet mehrere tausend Euro, auch Sportprothesen sind in vielen Ländern unbezahlbar. Ian Brittain, Professor an der Coventry Business School und Experte für paralympischen Sport, sieht den Erfolg von Ländern bei Paralympischen Spielen als klaren Indikator dafür, wie stark eine Gesellschaft Menschen mit Behinderungen ins Alltagsleben integriert. Allerdings reicht guter Wille bei weitem nicht aus. Oft fehlt es schlicht an Geld.
Paralympics-Teilnahme: Mit dieser Kampagne soll armen Ländern geholfen werden
Beim IPC hat man dieses Problem verstanden. Eine knappe Woche vor den am 24. August startenden Spielen von Tokio hat es die Kampagne „WeThe15“ ausgerufen, mit dem armen Ländern dabei geholfen werden soll, Strukturen für Behindertenbreitensport zu etablieren und zu stärken. Neben dem IPC beteiligen sich die Vereinten Nationen, die NGO International Disability Alliance und mehr als zehn weitere Organisation am Vorhaben. Der Name deutet auf die 15 Prozent der Weltbevölkerung hin, rund 1,2 Milliarden Menschen, die mit einer Behinderung leben. Für sie will die Kampagne unter anderem mit nationalen Regierungen verhandeln, um Sportausrüstungen günstiger verfügbar zu machen.
Wie wirksam das Ganze am Ende sein wird, hängt aber nicht nur vom Geld ab. In vielen Ländern, wo neben dem Wohlstand auch das Bildungsniveau geringer ist, werden Menschen mit einer Behinderung auch sozial stärker ausgegrenzt. Dies wiederum soll sich auch durch die Paralympics selbst ändern, die sich schließlich als riesige PR-Aktion für alle Menschen mit einer Behinderung sehen. Die Organisatoren von „Tokyo 2020“ erwarten einen erneuten Rekord bei den globalen Einschaltquoten. 4,25 Milliarden Zuschauer weltweit werden erwartet.
"Tokyo 2020": Medaillensieger werden vor allem aus reichen Ländern stammen
„Die Spiele werden in 150 bis 160 Ländern gesendet. Zum ersten Mal wird auch in 40 Ländern in Subsahara-Afrika übertragen“, so Craig Spence. Damit werde eine neue Generation zum Sporttreiben inspiriert. Denn dies sei das Wichtigste Vermächtnis paralympischer Spiele: „Viele Zuschauer mit einer Behinderung sehen im Fernseher zum ersten Mal Personen, die so sind wie sie selbst. Nur dass sie eben Sport treiben. Solche Anekdoten höre ich immer wieder.“
Zum Erfolg der Paralympics könnte paradoxerweise auch die Pandemie verhelfen: Indem vielerorts auf der Welt das Alltagsleben stark eingeschränkt ist, sitzen oft mehr Menschen vorm Fernseher. Allerdings werden sie auch diesmal vor allem Medaillensieger aus reichen Ländern sehen.