Ihr Besuch bei der WM war für Sie ja auch eine Reise in die eigene Vergangenheit: Sie haben zwei Jahre in Brisbane gewohnt und gespielt. Hätten Sie gedacht, dass sich das Land doch so für den Fußball begeistert?
NADINE ANGERER: Ich bin nicht wirklich überrascht, aber von der Stimmung begeistert. Ich habe Frankreich gegen Jamaika in Sydney gesehen, das war eine Hammerstimmung trotz eines 0:0. Oder auch die Spiele in Perth waren atmosphärisch grandios, und da hat ja nicht Australien gespielt.
Die australischen Fußballerinnen, die „Matildas“, haben jetzt eine Euphoriewelle vor dem Viertelfinale gegen Frankreich in ihrer früheren Wahlheimat Brisbane losgetreten. Fiebern Sie mit?
ANGERER: Ich kenne noch sehr viele Spielerinnen aus der Mannschaft persönlich, weil ich mit vielen noch zusammengespielt habe. Sie haben es geschafft, eine Connection mit den Fans hergestellt. Sie haben auch selbst zueinander gefunden. Und wenn ich den Trainer Tony Gustafsson höre, bekomme ich Gänsehaut. Den Druck hat er abgeschüttelt. Sie reiten jetzt wie ein australischer Surfer auf einer Riesenwelle. Ich habe etliche Spiele dort auch in Sportsbars geschaut, und es war schön zu sehen, wie die Australier voll mitfiebern, wenn die Matildas spielen.
Was hat Sie sportlich am meisten beeindruckt?
ANGERER: Meine wichtigste Erkenntnis ist erstmal, dass die Torwartleistungen unfassbar gut geworden sind. Ansonsten ist das Turnier natürlich voller Überraschungen. Mich würde nicht wundern, wenn Kolumbien noch Weltmeister würde – das sage ich jetzt mit einem Augenzwinkern. Aber wer hätte gedacht, dass Südafrika, Nigeria, Marokko oder Jamaika weiterkommen – und dass Deutschland ausscheidet. Ich habe dem deutschen Team wirklich zugetraut, dass sie nach dem letzten Jahr mit der Euphorie der deutschen Fans und Medien eine ganz große Rolle bei dieser WM spielen. Denn Talent ist genug da, und ich bin weiterhin großer Fan dieser Mannschaft.
Aber was ist schiefgelaufen?
ANGERER: In solch einer Gruppe darf man niemals ausscheiden. Ich habe das Spiel Kolumbien gegen Marokko live im Stadion gesehen; und mit Verlaub: Bei allem Respekt für beide Teams, und ich habe wirklich Gänsehaut bekommen, wie sich die Marokkanerinnen gefreut haben, aber es ist eigentlich unmöglich, dass unser Team in dieser Konstellation rausgeht! Aber anscheinend war es ja möglich….
Woran hat es denn gemangelt? Außer Alexandra Popp verkörpert niemand einen absoluten Siegeswillen. Spätestens nach der Niederlage gegen Kolumbien hätten doch früher Sie und andere Führungsspielerinnen hinter verschlossenen Türen mal Tacheles geredet, wie es bei der EM 2013 nach dem zweiten Gruppenspiel gegen Norwegen passierte.
ANGERER: Ich kann nicht einfach sagen, bei uns war alles besser, weil ich außer Alex Popp, Sara Däbritz oder Melli Leupolz kaum mehr eine Spielerin kenne. Aber offensichtlich ist ja was schiefgelaufen. Ich habe ein Team mit Riesenpotenzial beobachtet, das aber die Ergebnisse nicht liefern konnte. Ich dachte eigentlich, dass die Vorbereitungsspiele gegen Vietnam und Sambia in der Vorbereitung die letzten Weckrufe waren. Vielleicht liegt systematisch im deutschen Fußball etwas im Argen, dass strukturell im Verband etwas nicht richtig läuft? Ich hoffe, dass eine ehrliche Analyse stattfindet. Jetzt die Sachen schönzureden, bringt keinen weiter.
Was vermuten Sie?
ANGERER: Ich glaube, dass über viele Jahre die Spielerinnen in eine Schablone gepresst worden sind, Dinge nicht mehr ganz so klar anzusprechen und nicht anzusprechen dürfen. Annike (Krahn), Saskia (Bartusiak) und Celia (Sasic, Anm. d. Red.) und ich beispielsweise, wir haben sowohl positive als auch unangenehme Themen direkt zur Sprache gemacht, ohne Furcht vor Konsequenzen. Trotzdem waren wir ja gute Menschen. Dieses Problem, sich bloß nicht kritisch zu äußern, ist über Jahre herangezogen worden – und das wird vielleicht gerade zum Problem.
Dazu passt, dass die Frauen-Bundesliga eine Mauer des Schweigens errichtet. Fast niemand möchte etwas sagen, Topvereine wie der VfL Wolfsburg erteilen bis auf Weiteres keine Auskünfte, heißt es Anfrage.
ANGERER: Erstmal muss man das respektieren, aber was ist denn so schlimm, auch mal etwas kritisch gegenüber dem Verband zu äußern? Nicht jede Kritik ist gleich ein Skandal, oder ein Angriff. Kritik kann vielmehr zur Lösungsfindung beitragen. Charaktere wie Almuth Schult, die vieles offen hinterfragen, sind doch die Ersten, die in einer Mannschaft versuchen, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.
Die USA haben über Jahrzehnte eine Winner-Mentalität entwickelt. Sind wahre Schockwellen nach dem Ausscheiden durch die Nation geschwappt?
ANGERER: Es wird für den Frauenfußball in Amerika keinen großen Schaden auslösen, dafür ist die Liga und die Präsenz zu stark. Aber natürlich ist das erstmal ein Schock für die USA, weil auch hier niemand ein so frühes Ausscheiden erlebt hat. Und die Mannschaft hat international sicher ein bisschen an Respekt verloren. Die USA werden jetzt stärker und hungriger als zuvor zurückkommen.
Wie kommt bei Ihnen an, dass Megan Rapinoe nach dem Elfmeter kurz gelacht und dann wörtlich von einem „sick joke“ gesprochen hat?
ANGERER: Sie spielt ja in Seattle, und ich zeichne ihre Elfmeter seit acht Jahren auf. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie irgendwann mal einen verschossen hat. Ich kann mich auch gar nicht daran erinnern, dass einer auch nur knapp reinging. Ich habe über 30 ‚penalty kicks‘ von ihr in meinen Dokumenten. Deswegen kann ich ihr Lachen verstehen, weil sie sich auch gedacht hat, was um Himmelswillen ist hier gerade passiert, dass ich in einem der wichtigsten Spiele meiner Karriere einen Elfmeter verschieße. Ich kann daher ihr Lachen sogar nachvollziehen.
Sie ist immer noch eine solche politische Figur, dass sie von Donald Trump sofort via Twitter beschimpft wurde.
ANGERER: Offensichtlich. Aber ganz ehrlich, wen interessiert, was Donald Trump sagt. Mich jedenfalls nicht.
Ihre Tätigkeit in Portland nennt sich „Director of goalkeeping“. Wie sehr hat Sie es gefreut, dass die meisten Torhüterinnen für ihre Fortschritte gelobt werden?
ANGERER: Ich war deswegen für die Fifa bei der WM und habe die Leistungen zusammen mit Pascal Zuberbühler analysiert. Auch wenn noch nicht alles perfekt ist, sind wir aber beide hellauf begeistert. Inzwischen wird der Torwart auch bei den Frauen zum ‚Gamechanger‘. Die Slapstick-Einlagen gab es fast kaum noch. Sondern: Immer häufiger wurden Torhüterinnen zur Spielerin des Spiels gewählt. Da sieht man, was sich entwickelt hat. Ich freue mich darüber so, dass ich über das Ausscheiden der USA und Deutschland hinwegsehen kann.
Zur Person
Nadine Angerer, 44, hat als zweifache Weltmeisterin und fünfmalige Europameisterin die erfolgreichsten Zeiten des deutschen Frauenfußballs geprägt. Vor zehn Jahren wurde die Torhüterin zur Weltfußballerin gewählt. Inzwischen arbeitet sie als Torwarttrainerin der Portland Thorns und analysiert als Teil der Technischen Studiengruppe im Auftrag der Fifa die Torwartleistungen.