Sämtliche Schulen in Bayern haben seit Montag geschlossen, der Unterricht ist vorübergehend wegen des Coronavirus eingestellt. Nervös wird Sebastian Schmidt trotzdem nicht. Der offizielle Lehrer des Jahres 2019 zeigte sich angesichts der Schließung der Schulen unbeeindruckt: „Ich kann meine Schüler theoretisch problemlos weiter unterrichten.“ Denn im Notfall sei es für ihn möglich, kurzfristig einen geregelten Online-Schulalltag anzubieten, sagt der 37-Jährige: „Keine Frage, es ist nicht das Gleiche. Aber über meine Plattformen besteht zumindest die Möglichkeit, überhaupt zu unterrichten.“ Sein Unterricht könnte derweil Modell sein für Schulen in einer digitalen Welt. Für die Zeit während des Coronavirus – und darüber hinaus.
Mathematik, katholische Religionslehre und Informationstechnologie unterrichtet Schmidt an der Inge-Aicher-Scholl-Realschule in Pfuhl, einem Stadtteil von Neu-Ulm. Für seine innovative Arbeit wurde er im November 2019 zum Lehrer des Jahres gekürt. 36 seiner Kollegen aus dem ganzen Freistaat sind aktuell Teil seines Projekts, das er „Lernbüro kooperativ – digital“ nennt. Im Kern geht es um Vernetzung sowie darum, Schule und Digitalisierung miteinander zu vereinbaren. Schmidt hält zudem Vorträge und spricht auf Fortbildungen des Kultusministeriums. Sein Ziel: zeitgemäße Bildung für Schüler.
Der Lehrer des Jahres hält Bayern Schulsystem für massiv veraltet
Denn: „Das Schulsystem in Bayern ist teils massiv veraltet“, kritisiert der Lehrer des Jahres. Er spricht dabei nicht von Tablets und Laptops. Die technische Ausstattung an den Schulen sei nicht das Entscheidende: „Der beschlossene Digitalisierungspakt ist selbstverständlich, ist Grundvoraussetzung“, sagt Schmidt. Die Frage, ob Schule digitaler werden soll, sei längst geklärt: „Es geht um das Wie, was wir Lehrer daraus machen.“ Seine Kollegen müssten selbst in die digitale Welt eintauchen und sich die Frage nach dem Nutzen der neuen Medien stellen: „Alles, was ich über modernen Unterricht weiß, habe ich auf Twitter gelernt. Und diesen Lernprozess müssen wir gemeinsam mit den Schülern machen. Denn die Digitalisierung ist ein Mehrwert, den wir endlich als solchen begreifen müssen.“
Dass das nicht von heute auf morgen funktioniere, sei ihm klar: „Wir Lehrer sind ein Problemfall. Wir sind superausgelastet und können nicht einfach alles über den Haufen schmeißen.“ Aber zumindest Offenheit für Neues und etwas auszuprobieren, ist Schmidt zufolge jedem Lehrer zumutbar. Viele seiner Kollegen unterrichten aber nach wie vor ausschließlich analog. Das könne er zwar nachvollziehen: „Das Digitale aus dem Unterricht ausgrenzen, ist aber realitätsfremd.“
Schmidt setzt in seinem Unterricht auf Medienkompetenz
Die digitale Entwicklung bezeichnet er als Fluch und Segen zugleich. „Es ist effizient. Aber digitale Medien sind Verstärker – positiv wie negativ.“ Die Schüler hätten etwa so viele Möglichkeiten wie noch nie, bei Prüfungen zu betrügen: „Google übersetzt englische Texte, die Smartwatch dient als Spicker. Wenn ich das als Lehrer nicht weiß, bin ich aufgeschmissen.“
Das Hauptaugenmerk legt Schmidt aber auf die positiven Aspekte. Smartphones nennt er Werkzeuge, die die Schüler jederzeit zur Verfügung haben. Die Chancen, dies räumlich und zeitlich zu nutzen, seien enorm: „Aber viel wichtiger ist, die Schüler sind überzeugt vom Smartphone, sind motivierter, wenn sie es benutzen dürfen.“
Mit seinen Schülern arbeitet er auf verschiedenen Online-Plattformen. So will er den Nachwuchs für das Internet sensibilisieren, den Jugendlichen beibringen, Dinge kritisch zu hinterfragen: „Etwa Politik und Sozialkunde – das hat früher das Schulbuch erledigt. Heute bringen die Schüler viel mehr Vorwissen mit – auch aus ihren eigenen Filterblasen, Stichwort Fake News.“ Gegen die komme ein Lehrer alleine nicht an, gibt Schmidt zu bedenken: „Aufklärung ist sehr wichtig. Die muss deshalb langfristig in den Unterricht implementiert werden.“
Der Unterricht an Bayerns Schulen müsse sich grundlegend ändern
Ein konkretes Beispiel für das Unterrichten von Medienkompetenz hat er parat. Als Mathematikhausaufgabe mussten seine Schüler ein Erklärvideo zu einem Thema auf Youtube suchen. Das erste Video, das der Anbieter in seiner Suchliste anzeigt, vermittelt allerdings falsches Wissen – das hatte Schmidt zuvor überprüft und deshalb bewusst dieses Thema ausgesucht. Das Ergebnis: Etwa ein Drittel seiner Schüler fiel auf das falsche Video herein. Dabei sei in den Kommentaren eindeutig gestanden, dass der Inhalt in dem Video falsch ist. Den meisten Schülern aber war das aufgefallen, sie hätten sich das nächste Video angesehen, in dem das Verfahren richtig erklärt wurde, berichtet Schmidt: „Die Schüler lernen so nicht nur den Inhalt, sondern, nicht blind zu glauben, was sie auf ihrem Smartphone sehen.“
Ausschließlich digital zu unterrichten, funktioniere allerdings keinesfalls, betont Schmidt: „Ein Klick im Internet reicht für Wissensvermittlung nicht aus. Man braucht Buch und Smartphone.“ Er versucht deshalb, das Beste aus beiden Welten zu vereinen: „Erklärvideos auf Youtube helfen beim Verstehen, aber ersetzen niemals den Unterricht – die Schüler müssen sich mit einem Thema vielschichtig auseinandersetzen.“ Digitaler Unterricht, etwa mit einem Tablet, sei nur dann sinnvoll, wenn den Schülern gleichzeitig auch die digitale Kompetenz vermittelt wird. „Und dafür reicht das Lehren nicht aus, die Schüler müssen auch lernen, müssen selbst aktiv werden. Das wäre sonst wie Stabhochsprung ohne Stab.“
Dafür müsse jedoch ein Umdenken bei der grundsätzlichen Struktur des Unterrichts stattfinden, fordert Schmidt. Wenn er frontal unterrichte, habe er die Aufmerksamkeit der Klasse für maximal zwei Minuten – dann drifteten die meisten Schüler mit ihren Gedanken ab. Er setzt deshalb auf individuelleren Unterricht. Schüler, von denen er weiß, dass sie selbstständig arbeiten, lasse er Raum, das zu tun. So könne er sich intensiver um andere kümmern, die seine aktive Unterstützung wirklich brauchen. „Ohne Lehrer geht nichts, höre ich oft. Aber das ist schlicht falsch. Die Lehrer müssen endlich begreifen, dass der Lehrer nie der Mittelpunkt war. Es ging immer um die Schüler.“ Seine Arbeit versucht Schmidt deshalb nicht auf sich auszurichten, sondern seine Schüler ins Zentrum zu rücken: „Das Geheimnis meines Unterrichts liegt wohl darin, dass nicht das Belehren im Mittelpunkt steht, sondern das Lernen der Schüler.“
Auch bei den Abschlussprüfungen sieht Schmidt Handlungsbedarf
Nachhaltige Änderungen fordert Schmidt auch bei den Prüfungen: „Aktuell wird ausschließlich reproduziertes Wissen geprüft.“ Solange sich die Abschlussprüfungen darauf beschränken, könne und werde sich am Unterricht nichts Grundlegendes ändern, vermutet der Lehrer des Jahres. Hier sieht er den Freistaat in der Pflicht: „Groß angelegte Projekte von den Schülern ausarbeiten zu lassen, wäre sinnvoller.“ Etwa die Planung eines überdachten Fahrradstellplatzes für den Schulhof. Hier seien die Schüler in vielen verschiedenen Kompetenzen gefordert und würden unfassbar viel lernen.
„Ich will den bestehenden Lehrplan nicht schlechtreden, aber das Verstehen sollte wichtiger sein als das Auswendiglernen“, sagt Schmidt und fügt hinzu: „Wir brauchen Kulturoptimisten, keine Pessimisten. Ich sage auch ganz bewusst: Vieles ist scheiße. Aber wir sollten täglich versuchen, es ein bisschen besser zu machen.“
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