Es ist dann gerne von Luxusproblemen die Rede, wenn ein Trainer die Möglichkeit hat, unter zahlreichen scheinbar gleich starken Spielern auswählen zu können. Joachim Löw hat dementsprechend gleich zwei Luxusprobleme. Mit Kai Havertz, Timo Werner, Leroy Sané, Thomas Müller und Serge Gnabry stehen dem Bundestrainer gleich fünf Spieler zur Verfügung, die höchsten internationalen Ansprüchen genügen.
Doch egal, für welches System sich Löw entscheidet: Für recht viel mehr als maximal vier Angreifer wird er keinen Platz haben und auch das nur, wenn er sich für das unter ihm aus der Mode gekommene 4-2-3-1-System entscheidet. Mindestens genauso schwer ist die Zusammenstellung des zentralen Mittelfeldbereichs.
Vier Spieler könnten Anspruch auf einen der zwei Stammplätze erheben
Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Joshua Kimmich und Leon Goretzka könnten alle aus verständlichen Gründen Anspruch auf einen Stammplatz erheben. Dazu kommt mit Florian Neuhaus ein Spieler, der mit seinem Elan Unruhe in gegnerischen Reihen stiften kann. Auch das also: ein Luxusproblem.
Es ist allerdings eines, das sich Löw selbst zuzuschreiben hat. So hochveranlagt die genannten Akteure auch sind, sie bringen doch alle unterschiedliche Stärken mit sich. So wenig sich Kai Havertz und Thomas Müller bezüglich ihrer Ballbehandlung ähneln, tun es beispielsweise Kimmich und Kroos in der Vorstellung, wie ein Zweikampf angegangen werden sollte.
Kroos hat andere Stärken als Goretzka oder Gündogan
Löw weiß um die unterschiedlichen Stärken und Schwächen seiner Spieler. Verständlicherweise hat er seit der WM 2018 nach einem Spielsystem gefahndet, das am ehesten die Fähigkeiten seiner Spieler zur Geltung bringt. Für unterschiedliche Spieler sind aber unterschiedliche Ausrichtungen prädestiniert. Kroos bringt durch seine Ballbehandlung extreme Ruhe ins Spiel. Goretzka wiederum beschleunigt den Ball gerne nach vorne. Und so unterscheiden sich sämtliche Spielertypen. Im Optimalfall ergänzen sich ihre Spezialbegabungen. Das klappt vor allem dann, wenn es sich um eine eingespielte Mannschaft handelt. Wenn das System eingeschliffen ist. Wenn Spieler C weiß, was B macht, falls A den Ball auf D spielt.
Für Löw bedeutete die Weltmeisterschaft in Russland eine Zäsur. War er bis dahin als Verfechter ästhetischen Offensivspiels aufgetreten, machte er anschließend kehrt. Mittlerweile aber haben zwar etliche Spieler Wiedererkennungswert, nicht aber die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Es ist nicht klar, für was sie stehen will. Ballbesitz? Umschaltfußball? Von allem ein bisschen.
Kroos hat sein Spiel nicht umgestellt, die Nationalmannschaft aber schon
Es überrascht daher wenig, wenn Kroos sagt: "Ich habe mein Spiel nicht umgestellt." Kann er auch gar nicht. Er wird immer ein großartiger Dirigent bleiben, der aus vernünftigen Gründen Laufduelle vermeidet. Wenn aber Kroos sein Spiel nicht ändert, die Mannschaft aber sehr wohl, gerät etwas ins Ungleichgewicht.
Löw hatte drei Jahre für ein System Zeit - und stellte nun um
Löw selbst scheint eher nach einem System zu suchen, in das er möglichst viele seiner außergewöhnlichen Spieler einsetzen kann. Auch deshalb spielt Joshua Kimmich nun auf dem rechten Flügel. Dabei hatte der Bundestrainer drei Jahre Zeit, ein System zu entwerfen und fortzuentwickeln. Eines, das möglichst unabhängig von einzelnen Spielern ist. Kimmich ist der dominanteste Mittelfeldspieler im deutschen Kader. Er wird sich nun aber gegen Frankreich am Dienstag wohl eher nicht mit Paul Pogba und N’Golo Kanté um die Vorherrschaft im Zentrum balgen, sondern versuchen, das Spiel über den Flügel anzukurbeln. Kroos ist sich sicher, "dass er beide Positionen großartig spielen kann".
Er selbst und Gündogan seien da weniger flexibel. Sie sind jeweils Fach-Experten. Gerade aber die vergangenen beiden Jahre haben gezeigt, dass Teams vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie auf bekannte Strukturen vertrauen können. Flicks Bayern verfolgten immer einen sichtbaren Plan, Tuchels Chelsea ebenso. Beide Klubs gewannen zuletzt die Champions League. Dass Pep Guardiola die englische Liga dominierte, hat zu großen Teilen mit dem außergewöhnlichen Personal zu tun – aber eben auch mit einem Plan, der nur selten geändert wird (und wenn doch, verliert man das Endspiel der Champions League).
Der deutsche Plan wird immer noch ausgearbeitet. Man sei da schon vorangekommen, so Kroos. "Mehr Klarheit" präge das Spiel der Deutschen mittlerweile. Möglicherweise reichen Löw die Einheiten bis zum Turnierbeginn tatsächlich, um wichtige Automatismen einzustudieren. Dann ist auch gar nicht mehr so wichtig, wer wo spielt – sondern, dass er eine Aufgabe erfüllt, die zu ihm passt. So wie im Champions-League-Finale 2020. Da nämlich stand Flick vor einem ähnlichen Problem wie Löw. Kimmich spielte Rechtsverteidiger – und bereitete das entscheidende Tor vor.
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