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Landkreis Augsburg: Jugendamts-Chef warnt: Jugendliche werden viel mehr Hilfe brauchen

Landkreis Augsburg

Jugendamts-Chef warnt: Jugendliche werden viel mehr Hilfe brauchen

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    Mehr Internet-Nutzung und Bewegungsmangel sind die Folgen der Corona-Bestimmungen für viele Jugendliche. Doch auch für die Entwicklung ist der Lockdown problematisch.
    Mehr Internet-Nutzung und Bewegungsmangel sind die Folgen der Corona-Bestimmungen für viele Jugendliche. Doch auch für die Entwicklung ist der Lockdown problematisch. Foto: dpa (Symbolbild)

    Herr Neumeier, in der Sozialraumanalyse des Landkreises für die Jahre 2017 bis 19 zeigt sich, dass in vielen ländlichen Gemeinden die Kennzahlen für familiäre Probleme ansteigen, zum Beispiel bei den Erziehungshilfen. Sind das statistische Ausreißer oder festigen sich Trends?

    Hannes Neumeier: Grundsätzlich kann man sagen, dass wir im Landkreis in den 20 Jahren, in denen es die Sozialraumanalyse gibt, sehr stabile Werte haben. Wir haben Systeme geschaffen, die es ermöglichen, dass Familien sich schnell helfen lassen können. Gleichzeitig haben wir gute Zuführsysteme: Kitas, Schulen und Kinderärzte wissen, dass sie sich bei Problemen an uns wenden können. Man wird nie hundertprozentig jeden erreichen, der Hilfe nötig hat, doch ich denke, wir sind im Landkreis auch im bayerischen Vergleich sehr gut aufgestellt.

    Wie schätzen Sie die steigenden Zahlen bei diversen Richtwerten in ländlichen Gemeinden ein? Ist die Welt auf dem Land nicht mehr so in Ordnung wie früher?

    Hannes Neumeier ist Leiter des Jugendamts des Landkreises Augsburg.
    Hannes Neumeier ist Leiter des Jugendamts des Landkreises Augsburg. Foto: Landratsamt

    Neumeier: Steigende Zahlen bei Erziehungshilfen sind per se keine schlechte Nachricht, sondern sie zeigen, dass Menschen sich trauen, Hilfe zu suchen, statt Probleme nach dem Motto anzugehen: Warte, bis Papa nach Hause kommt. Die meisten Familien nehmen freiwillig Unterstützung in Anspruch. Dabei hilft, dass wir als erster Landkreis in Bayern ein flächendeckendes Netz an Familienstützpunkten in den Kommunen hatten, wo die Menschen niederschwellig Hilfe suchen können. Einige Gegenden sind allerdings seit einigen Jahren signifikant belasteter aufgrund einiger Phänomene.

    Können Sie Beispiele nennen?

    Neumeier: Derzeit erleben wir steigende Zahlen in den Stauden und im nördlichen Landkreis. Es gibt keinen 1:1-Begründungszusammenhang für die Ursachen sozialer Probleme, aber verschiedene gemeinsame Faktoren, die mit hineinspielen. Beispielsweise gibt es in beiden Regionen Arbeitgeber, die auch weniger gut ausgebildete Menschen beschäftigen. Dazu kommt in ländlichen Gemeinden meist günstiger Wohnraum und eine steigende Anzahl von Menschen, die Leistungen nach dem SGB II beziehen. Das bedeutet nicht, dass jemand, der wenig Geld hat, seine Kinder nicht gut erziehen kann. Aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er Hilfe braucht. Hinzu kommen weitere Faktoren: In den Stauden gibt es zum Beispiel erhöhte Scheidungsraten. Bei Scheidungsstreitigkeiten der Eltern brauchen die Kinder circa zehnmal häufiger Unterstützung wie bei gütlichen Trennungen. Im nördlichen Landkreis spielt das Thema Migration eine stärkere Rolle.

    Sind das noch Nachwirkungen des Flüchtlingszuzugs nach 2015?

    Neumeier: Natürlich bringen die engen Unterkünfte auch Probleme für Familien mit sich, aber dort haben wir ein gutes Helfernetz. In den Gemeinden spielen aber eher Migranten aus Ost- und Südosteuropa eine Rolle, die Probleme haben, hier Fuß zu fassen. Das kann wiederum zu Konflikten führen. Darauf reagieren wir mit unserer Jugendhilfe. Wie Migration gelingen kann, zeigt die Gemeinde Langweid, wo Menschen aus mehr als 60 Nationen leben. Dort hat man es mit Investitionen in ehren- und hauptamtliche Strukturen der sozialen Arbeit geschafft, den sozialen Frieden zu erhalten. Gute Erfahrungen haben wir mit Helfern gesammelt, die aus den jeweiligen Kulturkreisen stammen und hier schon Fuß gefasst haben.

    Im Jugendhilfe-Ausschuss des Kreistags haben Sie gesagt, dass Sie nach Ende des Corona-Lockdowns mit einer steigenden Zahl von Kindern und Jugendlichen rechnen, die Hilfe brauchen. Wie sieht es aktuell aus?

    Neumeier: Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ist die Zahl der Inobhutnahmen wegen Kindeswohlgefährdung derzeit niedriger als gewöhnlich. Allerdings befürchten wir, dass das eher daran liegt, dass die Kinder nicht in die Kita oder zur Schule können, wo Probleme bemerkt werden. Unsere Mitarbeiter halten auch jetzt engen Kontakt zu den Familien, die wir bereits betreuen. Unsere Sorge gilt denen, die wir noch nicht kennen.

    Welche Folgen befürchten Sie konkret?

    Neumeier: Durch die Schließungen der Kitas, die unsere ersten Bildungseinrichtungen sind, lernen die Kinder unter anderem, gruppenfähig zu werden. Wenn sie aufgrund der Verordnungen von anderen Kindern isoliert werden und nur mit Erwachsenen zu tun haben, können sie sich nicht an anderen Kindern reiben, auch mal verlieren lernen und kindgerechte Sprache entwickeln. Wir haben bereits jetzt Rückmeldungen über deutlich mehr Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Beißkindern. Bei Schülern hat die kürzlich vorgestellte Ifo-Studie zahlreiche Auswirkungen aufgezeigt: Lernlücken, mehr Übergewichtige durch zu wenig Bewegung und Häufungen von Depressionen und Spielsucht-Erkrankungen. Die Politik hat besonders im ersten Lockdown die Heranwachsenden vergessen. Der Vergleich mit Altersgenossen ist für alle Kinder und Jugendlichen wichtig. Doch in der Pubertät findet die Entwicklung zum Erwachsenen fast nur in Freiräumen ohne Eltern und Lehrer statt. Diese existenzielle Zeit kommt ihnen nun abhanden und darunter leiden viele. Einem 15-Jährigen kann man nicht sagen: Dann warte halt noch ein Jahr.

    Wie kann man in der Jugendhilfe helfen und sehen Sie sich dafür gerüstet?

    Neumeier: Zunächst einmal habe ich große Zuversicht in die Resilienz der Kinder. Aber klar ist: Gerade sensible Jugendliche und viele Familien werden deutlich mehr Unterstützung brauchen. Kinder bekommen mit, wenn Eltern Angst um ihre Existenz haben, weil ihnen das Einkommen wegbricht. So etwas kann Traumata auslösen. Wie sich die Phänomene auswirken, wird man mit zeitlicher Verzögerung sehen, wenn die Kinder wieder Vertrauen gefasst und über ihre Probleme geredet haben. Wir sind mit unserer Infrastruktur im Landkreis aber gut darauf vorbereitet und haben auch die entsprechenden Fachkräfte.

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