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Bobingen/Schwabmünchen: Patiententagebuch auf Intensivstation: Berührende Botschaften für die Zeit danach

Bobingen/Schwabmünchen

Patiententagebuch auf Intensivstation: Berührende Botschaften für die Zeit danach

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    Pflegekräfte schreiben in Bobingen und Schwabmünchen Tagebücher für Menschen auf der Intensivstation.
    Pflegekräfte schreiben in Bobingen und Schwabmünchen Tagebücher für Menschen auf der Intensivstation. Foto: Tobias Hase, dpa (Symbolbild)

    Normalerweise werden in einem Tagebuch ganz persönliche Eindrücke festgehalten. Patienten der Intensivstation können das nicht – sie befinden sich während der Beatmung oft im künstlichen Koma.

    Um alles rund um den Aufenthalt in den Wertachkliniken Bobingen und Schwabmünchen festzuhalten, schreiben Pflegekräfte und Angehörige ins Tagebuch. Die Aufzeichnungen sollen später helfen, die Zeit auf der Intensivstation später besser zu verstehen und zu verarbeiten. Für die Pflegeexpertin Jeanette Lohrey ist das Buch eine Herzensangelegenheit. Im Studium hatte sich die 24-Jährige bereits mit dem Thema ihrer Bachelor-Arbeit befasst.

    Ein Tagebuch ohne eigene Handschrift? Wie muss man sich das vorstellen?

    Jeanette Lohrey: Das Tagebuch ist gedacht für Patienten, die nicht genau mitbekommen, was mit ihnen passiert.

    Was tragen Sie und Ihre Kollegen ein?

    Lohrey: Zum Beispiel, was wir mit dem Patienten erlebt haben. Wenn er etwa zum ersten Mal ohne Unterstützung einer Maschine wieder selbst geatmet hat. Oder wenn er zum ersten Mal alleine an der Bettkante sitzt. Manchmal halten wir auch fest, wenn der Patient Ängste oder Sorgen hat. Genauso kann man auch schreiben, dass es draußen schneit oder ein besonderer Feiertag ist. Mit Corona haben wir ein zusätzliches Blatt eingefügt, auf dem Angehörige persönliche Vorlieben des Patienten angeben können.

    Welche Vorlieben haben Patienten?

    Warum?

    Lohrey: Das ist wichtig, weil wir den Patienten nicht mehr zu seinen Vorlieben befragen und ihn so besser kennenlernen können. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten: Was schmeckt ihm? Möchte er rasiert werden? Welcher Duft gefällt ihm? Pflege lässt sich so spontan sehr individuell gestalten.

    Um das Tagebuch zu schreiben, benötigen Pflegekräfte eine sehr gute Wahrnehmung.

    Lohrey: Das stimmt. Für uns Pflegekräfte ist das Tagebuch im Gegenzug auch eine Möglichkeit, die persönliche Beziehung zum Patienten noch mehr aufzubauen. Wir können eigene Emotionen einfließen lassen und so auch die Verbundenheit zu den Betroffenen ausdrücken. Manchmal passiert es ja auch, dass Patienten schon nicht mehr ansprechbar sind, wenn sie zu uns kommen. Corona macht's noch schwieriger, weil keine Angehörigen auf die Intensivstation kommen dürfen.

    Auch Freunde dürfen schreiben

    Führen das Tagebuch nur die Pflegekräfte?

    Lohrey: Nein, das ist ganz unterschiedlich. Es dürfen auch Freunde etwas hineinschreiben - jeder, der dem Patienten nahesteht. Tagebuchschreiben ist für mich immer eine Teamleistung.

    Pflegeexpertin Jeanette Lohrey von den Wertachkliniken Schwabmünchen und Bobingen.
    Pflegeexpertin Jeanette Lohrey von den Wertachkliniken Schwabmünchen und Bobingen. Foto: Wertachkliniken

    Was sind die Reaktionen von Patienten?

    Lohrey: Teilweise sind die Menschen zunächst zögerlich. Viele brauchen Zeit, um das Tagebuch zu lesen. Viele nehmen es dann aber dankbar an. Das Tagebuch ist Eigentum der Patienten und sie können frei entscheiden, was sie damit machen.

    Eine Lücke in der Erinnerung

    Mit dem Tagebuch schließen sie eine Erinnerungslücke, die oft mit dem Aufenthalt auf der Intensivstation entsteht.

    Lohrey: Viele ehemalige Patienten haben nach dem künstlichen Koma Albträume oder Angstzustände. Sie können die Erinnerungslücken nicht greifen. Ein Tagebuch kann helfen, diese Lücken einzuordnen.

    Was Patienten im Koma mitbekommen

    Haben Sie ein Beispiel?

    Lohrey: Ein früherer Patient bekam an der Tankstelle immer Angstzustände, als er Benzin roch. Irgendwann stellte sich heraus, dass ihm in der Klinik mit Wundbenzin die Nase vom Pflaster für die Magensonde gereinigt wurde. Durch das Tagebuch wurde dann klar, was es damit auf sich hatte. Man darf ja nicht vergessen: Patienten schlafen im künstlichen Koma ja nicht komplett. Sie bekommen viele Geräusche und Gerüche mit.

    Was ist, wenn ein Patient nicht überlebt? Was passiert mit dem Tagebuch?

    Lohrey: Das ist schwierig. Wir brauchen bestimmte Vorgaben aus der Patientenverfügung, um das Tagebuch der Familie aushändigen zu dürfen. Wir entscheiden schon vorher als Team individuell, ob wir ein Tagebuch beginnen.

    Woher kam die Idee dazu?

    Lohrey: Ich hatte in einer Fachzeitschrift vom Tagebuch gelesen. Für mich wurde es dann zu einem Traumprojekt. Allerdings musste ich auch feststellen, dass nicht alles so leicht umzusetzen ist. Die rechtlichen Fallstricke und Vorgaben können manchmal Kopfzerbrechen bereiten. Es gab aber viele Hilfestellungen von Pflegewissenschaftlern. Wir haben das Tagebuch-Projekt dann an den Wertachkliniken entworfen und in eine Pilotphase geschickt. Mit einer Projektgruppe wurde dann alles geschärft.

    Lesen Sie dazu auch: Besuch auf der Intensivstation: Es fehlt nicht an Betten, es fehlt an Arbeitskräften

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