Kayseri? Was willst du da? Fahr doch nach Izmir, Antalya, Istanbul. Deutschtürken schütteln den Kopf, wenn man dieses Reiseziel nennt. Das Beste an der Millionenstadt Kayseri scheint also der Schnellzug nach Ankara sein. Für neugierige Reisende jedoch ist die zentralanatolische Metropole, das antike Caesarea mit dem „Kaiser“ im Namen, mehr als nur ein Abfahrtsort. Die boomende Stadt auf 1200 Meter Höhe im kargen Hochland südlich von Ankara gelegen, hat nicht nur die Römer, sondern zuvor schon Assyrer, Hethiter und Griechen, danach Christen, Seltschuken und Osmanen fasziniert. Eine aus dunklen Basaltsteinen gebaute, etwas düstere, gut erhaltene Römer-Burg im Zentrum hat heute im tiefer gelegten Innenhof ein modernes Archäologisches Museum. Hier lagern bis zu 6000 Jahre alte Zeugnisse vergangener Zivilisationen.
Wichtigste Grabung der Zentraltürkei ist das nur 20 Kilometer entfernte Kültepe. Waren es Ende des 19. Jahrhunderts erst Franzosen, dann ein Deutscher, schließlich ein Tscheche, die sich hier mit Probegrabungen versuchten, erforscht die Türkische Historische Gesellschaft das große Areal am Fuß des erloschenen Vulkans Erciyes seit den 40er Jahren. Die Grabung ist eine der wichtigsten der Türkei, jedoch touristisch noch wenig erschlossen. Vor 4000 Jahren blühte hier die assyrische Handelsmetropole Kanisch.
Maulwürfe sind Grabungshelfer in Kültepe
Ali, ein Beamter des Kulturministeriums, würde gerne mehr Gäste begrüßen. Über das Grabungsfeld und durch das neue, kleine Museum, geht es zu den Resten dieser einstmals assyrischen Stadt. Er tritt ins dürre Gras und hebt etwas Weißes auf. Ein Kiefer mit kleinen Zähnen. „Solche Tierknochen findet man hier überall“, sagt er. Die Zeit steht nicht still, Maulwürfe befördern die über Jahrhunderte tief unter der Erde konservierten Artefakte nach oben. Darf man einen Knochen mitnehmen? „Yasak“, sagt er und hebt die Augenbrauen. Verboten. Seit 1990 ist er hier angestellt, direkt nach dem Abitur hat er angefangen und gelernt, was ein Grabungshelfer so können muss: Erde sieben, Funde identifizieren, waschen, konservieren. Ali zeigt ein paar nachgebaute Häuser mit Friedhof im Keller, die Grundmauern einer Zitadelle, kultische Einrichtungen, ein eigenes Viertel für Händler und ihre Waren – ein hoch entwickelter Außenposten des assyrischen Reichs, das sich bis 600 v. Chr. von Babylonien über Iran, hinunter nach Ägypten und eben bis Zentralanatolien erstreckte. „In 18 Hügeln haben wir verschiedene historische Siedlungsschichten bis hin zu den Römern dokumentiert“, erklärt Ali. 2011 fand man nach und nach 23.000 Tontafeln, auf denen in kleiner, altassyrischer Keilschrift Verträge, Inventare, Eheschließungen und -scheidungen ausführliche Hinweise auf Organisation und Leben in dieser Stadt geben.
Hinter Kültepe Richtung Westen beginnt das Land der Feenkamine, wie die bizarren Tuffsteinkegel in der etwa 100 mal 100 Kilometer großen Region auf Türkisch genannt werden. Schluchten und Täler, bevölkert von phantastischen Skulpturen, geboren aus der Lava, die der Vulkan Erciyes über Millionen Jahre in die Region ergoss. Von Wind und stetiger Erosion geformt, türmen sich die vom Kupfer- oder Eisenvorkommen mal rot-orange, mal weiß, mal lindgrün gefärbten Feenkamine zu bis zu 20 Meter hohen Kegeln auf. Viele balancieren einen dunklen Granitblock auf ihrer Spitze. Wie hingelegt und festgewachsen ruhen die Brocken dort. Die Natur hat sie irgendwie dorthin befördert – die Theorien reichen von Erdbeben bis Vulkanausbruch. Ihr Gewicht schützt die bröseligen Kegel darunter vor dem Verfall, der andernfalls bis zu zwei Zentimeter im Jahr betragen soll.
Höhepunkt von Kappadokien ist das Göreme-Tal
Christen lebten schon im ersten Jahrhundert hier, gruben während der römischen Verfolgung Schutzräume in die Felsen. Erst im Jahr 380 wurde das Christentum römische Staatsreligion, auf den Wänden in den geheimnisvollen Gewölben der Höhlenkirchen sind die Märtyrer verewigt. Der Heilige Basileos, der die byzantinische Kloster-Bewegung gründete und aufrief, sich in die abgelegenen Felsentäler zurückzuziehen, stammte von hier, er wurde im Jahr 362 zum Diakon geweiht. Viele der Kirchenfresken jener Zeit zeigen ihn und den Heiligen Georg, der auf dem nahen Erciyes einen Drachen getötet haben soll.
Der Höhepunkt von Kappadokien ist das Göreme-Tal, ein Nationalpark, der seit 40 Jahren zum Weltkulturerbe gehören. Sechs versteckte Kirchen und mehrere Klosteranlagen vor allem aus dem 10. Jahrhundert lassen sich hier erlaufen und erklettern. Gutes Schuhwerk ist von Vorteil. Die spektakulärste, weil nahezu perfekt erhaltene Kirche aus byzantinischer Zeit ist die „Dunkle Kirche“. Im elften Jahrhundert erbaut, fällt seit 1000 Jahren nur durch eine schmale Öffnung in der Vorhalle der Kreuzkuppelkirche natürliches Licht ins Innere, so dass die Farbkraft der Fresken, vor allem das blaue Lapislazuli, beinahe im Original erhalten sind.
Das Dorf Uchisar hat ein besonderes Wahrzeichen
Uchisar ist ein Dorf in der Nähe des Handwerkerstädtchens Avanos. Schon von Weitem ist sein Wahrzeichen zu sehen. Ein massiver Fels, der sich plötzlich mitten in der Landschaft erhebt. Eine Zitadelle, die vollkommen mit begehbaren, antiken Höhlen durchlöchert ist. Schon die Hethiter sollen ihn als Festung genutzt haben. Gesichert ist, dass der Berg früher als Göreme von Christen bewohnt war und Platz für 1000 Menschen bot.
Ahmet (71) stammt von hier, er wurde in einem Dreier-Kegel geboren, sein Vater war Hoca in der Baba Ahmet Moschee. Er deutet auf drei miteinander verwachsene Felsenskulpturen unten am Berghang. Die gehörten seinem Vater, Ahmet hat sie längst verkauft. „Hotel“, sagt er wortkarg. „Unser ganzes Dorf ist ein Hotel geworden“, findet er. Tatsächlich tuckern mehrere Trecker die steilen Wege runter, im Anhänger Steine, Werkzeug und Arbeiter. „Früher hatte jeder ein Feld mit Kürbis oder Weintrauben, ein paar Ziegen, davon haben wir gelebt.“ Im Winter allerdings hätten sich die Gassen in schlammige Rutschbahnen verwandelt. Das sei jetzt besser, murmelt er, und rückt im Vorbeigehen einen losen Pflasterstein in der steilen Gasse zurecht.
Bis in die 1960er Jahre, als die ersten französischen Hippies eintrafen, waren die Tuffsteinhöhlen noch bewohnt, inzwischen sind die meisten verlassen oder zu kleinen Pensionen umgebaut. Wer kann, zieht in die modernen Vorstädte der Kreisstadt Nevsehir. Ismail mit Frau Emine und Sohn halten durch. Seit 800 Jahren ist sein Höhlenkegel am unteren Rand der Burg durchgehend bewohnt. Verschachtelt reihen sich hier Treppen, Tunnel und Räume aneinander. Mehrere Stockwerke sind verbunden durch steile, buckelige Stufen und Gänge. Sogar einen Balkon haben sie. 1959 wurde Ismail hier geboren, erzählt er. Draußen vor dem Haus gibt es Tee, Wasser und das erfrischende Joghurt-Getränk Ayran für Besucher. Auch der Kegel gegenüber ist belegt. Die Wache der Militärpolizei. Inklusive Gefängnis. Das sei aber leer, erklärt ein freundlicher Beamter vorm Eingang auf Nachfrage.
Derwische geben in Avanos Vorstellungen
In Avanos schiebt sich der längste Fluß der Türkei, der Kizilirmak, träge mitten durch die Stadt. Kleine Handwerkerbetriebe, Handel und Künstler prägen das Stadtbild. Mehmet Kilic hat hier ein Unternehmen im Baugewerbe. Vor 25 Jahren hat er in einer verfallenden Karawanserei aus dem 13. Jahrhundert ein Kulturzentrum gebaut. Die großen persischen und türkischen Lehrmeister des Mittelalters seien auf der früheren Seidenstraße alle hier vorbeigezogen, erklärt der Ingenieur. Ihren zentralasiatisch angehauchten, naturverbundenen, menschenzugewandten Islam zusammen mit den christlichen Einflüssen - diese regionale Tradition wolle er wieder beleben. Er sanierte die imposante Sandstein-Raststätte nach allen Regeln der Kunst und nannte sein Kulturzentrum Saruhan, gelbes Haus. Ein professionell in Konya, dem Zentrum des türkischen Sufismus, ausgebildetes Derwisch- und Musiker-Team gibt regelmäßig Vorstellungen.
Lange schauten sie in der Bezirkshauptstadt Nevsehir dem touristischen Treiben in den Nachbardörfern zu. Offen zugängliche Höhlenstädte und unterirdische Siedlungen hatte die Stadt nicht zu bieten. Bis 2012. Bei Bauarbeiten in dem Viertel unterhalb der mittelalterlichen Burg stürzten plötzlich Wände und Kellerdecken ein. Erstaunt stellte die Bauexperten fest: Der Berg war hohl. Emre Becerir ist seit 2016 Direktor der Abteilung Stadtentwicklung und erforscht, was die inzwischen etwa 2000 evakuierten Bewohner des Quartiers längst wussten: Unter ihren Häusern waren geheimnisvolle Höhlen und Gänge. „Niemand wusste, dass eine ganze Stadt dort unten drunter liegt“, erklärt Becerir, der jetzt mit einem jungen Team aus 14 Archäologen und drei Geologen den Berg dokumentiert und das insgesamt 437000 Quadratmeter große Areal entwickelt. Auch ein neues Wohnquartier soll hier entstehen. Ein Teil des begehbaren Freilichtmuseums wurde 2020 eröffnet, die Besucherzahlen steigen, wie die Tourismusexpertin im Team, Gülsüm Erciyas erklärt.
„320 Räume konnten wir identifizieren“, erklärt der 33-Jährige und zeigt ein dreidimensionales CAD-Modell. Bis in das letzte Jahrhundert hinein seien vor allem die Werkstätten genutzt worden. „Die Bewohner hatten in manchen Höhlen immer schon Keller oder Ställe“, erklärt er. Dass sich unter ihnen jedoch eine Stadt aus dem 5. Jahrhundert befand, sei unbekannt gewesen. Mehrfach jedoch seien die Hühner seiner Tante, die 2014 umgesiedelt wurde, im Nichts verschwunden. „Es war lange ein Rätsel, aber niemand traute sich, dort unten genauer nach zu sehen“, sagt der Architekt lächelnd.
Kappadokien ist eine Reise in die Natur und in die Vergangenheit. Kayseri, das Tor zu Kappadokien, hat übrigens tatsächlich einen Zug Richtung Ankara. Innerhalb von zwei Stunden geht es einmal längs durch die anatolische Hochebene - in ehemaligen deutschen ICE-Waggons mit blauen Sitzen und hölzernen Türen.
Informationen zur Reise
Allgemeines: 4,8 Millionen inländische und ausländische Touristen besuchten laut dem Kultur-Ministerium 2023 Kappadokien. 2019 waren es noch 3,8 Millionen.
Beste Reisezeit: März/April/Mai, September/Oktober. Trockenes, heißes Klima. Sommer über 40 Grad, im Oktober 30 Grad.
Erreichbarkeit: Flug über Istanbul nach Kayseri oder Flug nach Ankara, dann Zug.
Mobilität: Leihwagen etwa 35-40 Euro/Tag, hervorragende Straßen; gut ausgebautes, öffentliches Nahverkehrssystem mit Kleinbussen. Viele Firmen bieten Ballon-Fahrten für etwa 300 Euro an, auf Zertifizierung achten.
Übernachtung: Hotels mit Höhlen-Zimmern, sog. „Konaks“, Klimaanlage. Zu finden in Ürgüp, Uchisar und Avanos. Preise 80 bis 150 Euro, bei Direktbuchung gibt es Rabatt. Luxussegment: 300 Euro.
Reiseveranstalter: Viele Reiseveranstalter haben Kappadokien im Programm. Studiosus zum Beispiel bietet zwei Reisen im Jahr nach Kappadokien an. 1800 Euro kostet eine achttägige Reise.
Die Reportage wurde von Studiosus Reisen unterstützt.
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