Drei Alpinisten sind am Samstag noch im Rifugio Gonella abgestiegen, von überfüllten Verhältnissen, wie man sie aus den Alpen kennt, kann in diesem Fall also keinesfalls die Rede sein. Denn oben an den italienischen Hängen des Mont Blanc, den man hier im Aostatal natürlich Monte Bianco nennt, schmilzt das Eis im Zentimetertakt und das hat sich bei den Alpinisten herumgesprochen. „30 Zentimeter pro Tag schmilzt das Eis“, sagt Hüttenwirt Davide Gonella.
In der Satelliten-Ansicht auf Google-Maps sieht man, wie der Gletscher die frei auf dem Felsen stehende Hütte umarmt. Der Schneespeicher, aus dem die Hütte ihren Sanitärbetrieb speist, ist in diesem Jahr schon jetzt hinweggeschmolzen. Deshalb hat Gonella am Sonntag zugemacht. Am 17. Juli, mitten in der Hochsaison. „Unsere Stimmung?“, fragt Mitbetreiber Mauro am Telefon. „Was soll ich sagen? Wir wussten ja, dass es diesen Sommer extrem wenig Schnee gab. Da kann man nichts machen.“
Droht der Notstand auch in der Toskana?
Auf den Bergen lag schon im Winter kaum Schnee, weshalb es so gut wie keine Schneeschmelze gibt. Das bedeutet, dass die Flüsse wenig Wasser führen und damit auch das Wasser in vielen italienischen Seen auf Tiefstständen liegt. "Es gab wenig Regen, sehr wenig Schnee, starke Hitzewellen und anormale Wintertemperaturen", so fasst Ramona Magno vom Wissenschaftsrat Cnr die Lage zusammen. Seit Wochen sucht eine Hitzewelle vor allem den Norden des Landes heim, am Wochenende wurden in Carpi bei Modena 42 Grad Celsius gemessen. Meteorologen haben in der Po-Ebene in diesem Sommer bereits die vierte Hitzewelle ausgemacht, die jüngste haben sie „Apokalypse 4800“ getauft.
„Wir erleben gerade die ersten gewöhnlichen Ereignisse des kommenden neuen Zeitalters, des Zeitalters von Feuer, Sand und Hitze“, sagt der Geologe und Autor Mario Tozzi drastisch. „Der Klimawandel führt zu Hitzewellen, Dürren werden durch unsere übermäßige Wasserentnahme verstärkt. Die Wälder werden trockener, Feuer breiten sich leichter, länger und über größere Entfernungen aus“. Willkommen im Urlaubsland Italien.
In fünf norditalienischen Regionen (Piemont, Lombardei, Venetien, Friaul-Julisch Venetien und Emilia-Romagna) gilt seit Anfang Juli wegen extremer Dürre der Notstand. Möglicherweise wird die Regierung ihr Dekret auch auf die Toskana, Latium und Umbrien ausweiten. Manche Städte, etwa Pisa oder Verona, haben den Wasserverbrauch eingeschränkt. So sieht es aus in einem der liebsten Urlaubsländer der Republik. Wie jedes Jahr bereiten sich Hunderttausende auf den Exodus in Richtung Süden vor. Dass der Ansturm in diesem Jahr geringer ausfallen könnte als in den Vor-Pandemie-Jahren, dafür gibt es keine Anzeichen. Wo man auch anruft in Italien, sind (abgesehen vom Rifugio Gonella) die Tische und Strände schon jetzt besonders voll. Aber auf was muss man sich da einstellen, wenn man Ferien macht in einem Land, das gerade mit der größten Dürre seit 70 Jahren zu kämpfen hat?
Gute Stimmung am Lago Maggiore
In der Tiki Beach Bar in Verbania geht Flavio ans Telefon. Im Hintergrund ist Musik zu hören, es ist laut, eine Tatsache, die auf einige Kundschaft in der Via Paolo Troubetzkoy hindeutet. Die Tiki Beach Bar ist eine Art Kiosk am Ufer das Lago Maggiore, es gibt eine Terrasse mit Tischen, Sonnenschirmen und einer schönen Aussicht auf das Südufer. Verbania liegt im Piemont, die andere Seite des Sees gehört bereits zur Lombardei. Dem Wasserstand sind diese regionalen Unterschiede egal, er ist in diesem Jahr dramatisch niedrig. 70 Prozent weniger Schneefall als im Durchschnitt machen sich bemerkbar. „Brutta, brutta“, antwortet Barkeeper Flavio auf die Frage nach der Situation am See. „Schlimm“, bedeutet das.
Das Eigenartige ist, dass die Klänge aus der Beach Bar und Flavios Stimme so gar nicht zur dramatischen Situation passen wollen, in der sich der See befindet. Flavio ist in absoluter Sommerlaune, die Gäste scheinen sich auch prächtig zu amüsieren. „Klar, die Gäste kommen auch bei niedrigem Wasserstand“, sagt Flavio. Zwei Meter niedriger als sonst stehe das Wasser, schätzt der Mann aus der Beach Bar. Den Dampferbetrieb auf dem See hat das veranlasst, vor drei Wochen die Häfen Porto Valtravaglia, Ranco und Ispra nicht mehr anfahren zu lassen, die Fähren könnten auf Grund laufen. Einige Bürgermeister protestierten. Barmann Flavio kann man nach zwei Jahren Pandemie und Zwangsschließungen allerdings nicht verdenken, dass er lakonisch sagt: „Ja, mehr Wasser im See, das wäre schön. Aber nun ist es halt so.“ Die sportlichen Aktivitäten auf dem See hat der niedrige Wasserstand jedenfalls bislang nicht beeinträchtigt, heißt es. Im Gegenteil, in Monvalle am lombardischen Ostufer haben sie auf einer durch den Tiefstand entstandenen 100 Meter langen Trockenstelle ein Fußballfeld aufgebaut mit echten Toren. Die Behörden verstanden den Spaß aber nicht und ließen das Gelände am Wochenende räumen.
Rund um Mailand leiden die Menschen unter der Hitze
Im 70 Kilometer entfernten Mailand stöhnen die Menschen seit Wochen über die sengende Hitze. Bis zu 39 Grad werden hier diese Woche erwartet. Die Stadtverwaltung hat wegen des Wassermangels eine Reihe von Maßnahmen beschlossen. Gärten und private Rasenflächen dürfen nicht mehr bewässert werden, auch ist das Waschen des eigenen Pkws verboten, es sei denn man bringt ihn in die Waschanlage. Dies wird erlaubt, um den Betreibern der Waschanlagen nicht zu schaden. Regionalpräsident Attilio Fontana kündigte an, dass in der Lombardei noch bis 25. Juli Wasservorräte für die Landwirtschaft vorhanden seien, darüber hinaus aber nicht. Ausnahmsweise werden aus dem Mailänder Wasserbecken Darsena seit Ende Juni die Felder im Süden der Stadt gewässert.
Weil der Grundwasserstand noch nicht besorgniserregend ist, kann man sich an den 580 grünen Trinkbrunnen in der Stadt aber weiterhin erfrischen, von denen sich einige auch im Zentrum befinden. Pierluigi Barone hat hier, gleich neben dem Domplatz an der Santa-Margerita-Passage, seinen Kiosk, an dem man allerlei Souvenirs erwerben kann. „Schlecht“, antwortet er auf die Frage, wie man es derzeit in Mailand aushalten kann und nennt neben der Hitze die Luftfeuchtigkeit. Das Wetter ist für Barone wie für die meisten in der Tourismus-Branche Beschäftigten aber Nebensache. „Die Touristen sind da, das ist das Wichtigste“, sagt der Kioskbesitzer. Er hoffe, dass es so weitergehe mit dem Geschäft. „Sich aufregen und gegen die Hitze sein bringt ja sowieso nichts“, sagt er welterfahren.
Am Gardasee können die Schiffe nicht mehr überall hin
Anders sieht es da schon am Gardasee aus, dem liebsten Refugium der Deutschen in Norditalien. Ein Sprecher des Gemeindeverbandes warnte bereits, man solle beim Kopfsprung inzwischen genauer hinschauen. Wenn Marcello Mattioli mit seinem Wassertaxi von Peschiera nach Sirmione fahren will, muss er seit Wochen eine andere Route fahren, sollen seine schweren und eleganten Motorboote nicht auf Grund laufen. Der obere Teil der Halbinsel ist noch schiffbar, am südlichen Zipfel sieht es schlecht aus. „Ich komme da nicht mehr hin mit meinen Gästen“, sagt Mattioli, „es gibt zu wenig Wasser südlich der Burg von Sirmione.“ Beim Fisch-Restaurant Casa di Pescatori wird bestätigt: „Hier kommt seit Ende Juni keiner mehr mit dem Boot an“, sagt ein Kellner am Telefon.
Eines seiner Boote in Peschiera, berichtet Mattioli, hat er bereits aus dem Schlamm ziehen und verlegen müssen, so niedrig ist der Wasserstand am Südufer. Mattioli vermutet, dass auch die Fähren bald nicht mehr in Peschiera anlegen können. „Mein Sonargerät zeigt mir einen Wasserstand von nur noch 2,5 Metern an“, erzählt er. Aber auch er will sich nicht beschweren. Das Geschäft läuft so gut wie seit Jahren nicht, die Gäste sind in Massen da. „Es ist besser als in den goldenen Jahren“, sagt er. Auch das ist ein Widerspruch im Sommer 2022. Italien und Europa erleben eine Jahrhundert-Dürre mit allen dramatischen Konsequenzen, und die Reisebranche brummt wie selten zuvor.
An der Etsch ist die Dürre kaum zu spüren
So ist der italienische Sommer vor allem ein Paradoxon. Zu sehen ist das daran, dass die Rafting-Betreiber im Etschtal sich vor ihren Kunden aus Deutschland derzeit kaum retten können. Die Etsch ist schließlich trotz allem noch ein stattlicher Fluss, von Dürre ist hier kaum etwas zu spüren. Auf der kleineren Passer im Passeiertal hingegen ist der Kajak-Spaß schon nicht mehr möglich. Gleichzeitig mussten in Bibione bei Venedig am Wochenende Badegäste in die Adria flüchten, weil ein Stück Wald am Ortsrand brannte. Apokalyptische Szenen, wie man sie aus früheren Jahren kennt.
Wer Ferien im Süden macht, dem kann es passieren, dass er abgesehen vom eigenen Schweiß gar nichts mitbekommt vom Notstand und der Dürre. Man muss schon an Orte wie die Lagune von Orbetello in der toskanischen Maremma fahren, um dort das jährliche Fischsterben, ausgelöst von fünf Grad wärmerem Lagunenwasser und niedriger Sauerstoffsättigung mitzuerleben. Oder in Reggio Emilia in den Conad-Supermarkt „Le Vele“ gehen, um festzustellen, dass wegen Wassermangels und unterbrochener Lieferketten nur noch der Kauf von sechs Trägern Mineralwasser pro Person erlaubt ist. Notstand auf hohem Niveau.
Die Trockenheit ist an der Adria kein Thema
So werden auch im italienischen Dürre-Sommer 2022 Szenen wie diese zum touristischen Alltag gehören: Misano Adriatico, Hotel Daniel’s, ein angenehmer Familienbetrieb an der Adria, Zimmer mit Blick auf den Strand und das flache Meer, gutes Essen. Die Trockenheit sei kein Problem, sagt die Inhaberin, die ihren Namen nicht nennen will. Nicht einmal die Hitze soll hier nach Angaben der Inhaberin ein Problem darstellen und man mag ihr glauben. „Wir haben hier immer leichten Wind vom Meer, sehr angenehm“, sagt die Signora. Der Hotel-Pool ist gefüllt, die Duschen laufen einwandfrei wie immer. Die Stadtverwaltung musste keine Maßnahmen treffen. Der Spritz schmeckt ausgezeichnet. Offenbar hat das Hotel Daniel’s noch Kapazitäten für diesen Sommer. „Es ist göttlich hier“, schwärmt die Inhaberin. „Kommen Sie nur! Die Dürre? Sie betrifft uns nicht.“