Ein Aufschrei schallt über die schwarzbraune Schlammlandschaft, die sich flach wie ein Brett bis zum Horizont erstreckt. Keine fünf Minuten nach dem Start passiert es: Eine von uns rutscht im 30 Zentimeter tiefen Schlick aus und fällt der Länge nach ins Watt. Kein Wunder: Der zähe, modrig riechende Schlamm saugt sich an den Füßen fest, nur mühsam kommen wir voran, die Gruppe Urlauber schwitzt und schnauft. So eine Wanderung im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer ist anstrengender als gedacht.
Der kurze Blick zurück zeigt ein Urlaubsidyll: Am Nordsee-Ufer sitzen Gäste im Strandkorb, andere lassen Drachen steigen, Kinder toben auf Hüpfburgen. Tatsächlich gibt es dieses Bild nur auf einem Bruchteil der riesigen Nationalpark-Fläche, in den sogenannten Erholungszonen. Sie dienen der touristischen Nutzung, hier ist also erlaubt, was in den anderen streng geschützten Gebieten verboten ist.
Wir wenden uns vom Ufer ab und stapfen in aufgekrempelten oder kurzen Hosen Richtung Horizont. Im ostfriesischen Küstenörtchen Harlesiel hat uns Wattwanderführer Joke Pouliart vorher mit Wattsocken oder Badeschuhen ausgestattet: wegen der scharfkantigeren Meeresbewohner. Vor allem die Schalen der Pazifischen Auster, die sich in der Nordsee wegen der steigenden Wassertemperatur immer mehr ausbreitet, könnten in die Füße schneiden.
Joke Pouliart, der uns den Weg über den Meeresboden weist, ist Kooperationspartner des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer und des World Wide Fund for Nature (WWF). Natur- und Umweltschutz stehen bei seinen Watt-Touren im Vordergrund. „Der Mensch ist auch ein Teil dieses Nationalparks, mit all seinen Bedürfnissen“, sagt Pouliart beim Gang durchs glitschige Watt. Der Tourismus gehöre dazu, dürfe aber nicht zur Belastung für die Natur werden. „Hier am Wattenmeer versucht man mit einer Strategie für nachhaltigen Tourismus nicht mehr Masse zu schaffen, sondern eher mehr Qualität.“ Die Interessen von Wirtschaftsverbänden, Fischern und Umweltschützern müssten abgewogen werden.
Wenig Kompromiss, viel wirtschaftliches Interesse?
Mit im Watt ist auch der Urlauber Sven Deutschendorf aus Düsseldorf, Mitglied im BUND. Ihn überzeugt Pouliarts Haltung nicht: „Wenn man Kompromisslösungen findet, soll das so sein. Ich sehe aber wenig Kompromiss und viel wirtschaftliches Interesse. Wie eigentlich überall.“ Die Nationalparkverwaltung müsse mehr klare Kante zeigen und den Naturschutz offensiver durchsetzen, fordert Deutschendorf. „Nur was der Mensch kennt, das kann er auch schützen“, hält Pouliart dagegen.
Zu schützen gilt es hier ein weltweit einzigartiges Ökosystem: Mehr als 10.000 verschiedene Arten wurden bislang im niedersächsischen Wattenmeer entdeckt, alle perfekt angepasst an den Wechsel von Ebbe und Flut. Diejenigen Pflanzen und Tiere, die damit zurechtkommen, mit Sonne, Salz, Wind und Stürmen, die leben in einem Schlaraffenland. Das Watt ist extrem nährstoffreich. Darum haben Fische und Seehunde ihre Kinderstuben hier.
Plätschernd und rutschend, kichernd und keuchend arbeitet sich die Wandergruppe voran. Es ist Niedrigwasser: Die Nordsee hat sich weit zurückgezogen, die Inseln Wangerooge und Spiekeroog in der Ferne sind zu Fuß erreichbar. Wo das ungeschulte Auge nur eine Matschwüste sieht, wimmelt es im Untergrund von Leben: Unser Guide gräbt mit einem Klappspaten Wattwürmer aus, die den Schlick durchpflügen, zeigt auf kleine Krebse, die in ihren Wohnröhren auf Beute lauern, fängt mit dem Kescher eine Handvoll der Garnelen, die sich in den Prielen tummeln. Joke Pouliart will der Gruppe das labile Gleichgewicht dieses empfindlichen Lebensraumes zeigen. In dem es gluckert, sprudelt und plätschert.
Kälteliebende Fischarten wie der Kabeljau wandern ab
Denn das Wattenmeer mitsamt all seinen Bewohnern ist bedroht: Die Erderwärmung lässt die Temperatur der Nordsee steigen. Kälteliebende Fischarten wie der Kabeljau wandern darum ab. Andere ziehen mit den steigenden Temperaturen her. Das wärmere Wasser stört aber vor allem die Miesmuscheln in ihrer Winterruhe.
Die Folge: Sie werden kleiner, ihr Energiegehalt sinkt. Und weil im Wattenmeer alles mit allem zusammenhängt, bedroht das wiederum die Existenz der Zugvögel: Zehn Millionen von ihnen machen zwei Mal im Jahr Rast im Wattenmeer. Doch ohne das nährstoffreiche Muschelbuffet schaffen sie es nicht bis nach Westafrika oder zur Brutzeit hoch bis in die sibirische Arktis. So erklärt es Peter Südbeck, Leiter der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer mit Sitz in Wilhelmshaven.
Wenn der Meeresspiegel steigt, wird das Watt kleiner
Die größte Bedrohung des Wattenmeeres wäre die Havarie eines Öltankers, sagt Südbeck. Doch schon die Nummer zwei auf der Gefahrenliste ist der Klimawandel. „Wenn der Meeresspiegel ansteigt – und das ist die wesentliche Konsequenz, die wir hier zu befürchten haben – dann wird das Watt kleiner“, erklärt Südbeck. Die Deiche entlang der Küste könnten schließlich nicht so ohne weiteres ein paar Kilometer weiter ins Land verschoben werden. Wenn das Watt aber schrumpfe, gäbe es auch weniger ökologisch produktiver Flächen, weniger Nahrung für die Vögel, und die könnten dann nicht mehr so weit fliegen. „Wir haben eine direkte Verbindung von dem Gefährdungspotenzial Klimawandel auf die Wattgebiete mit der Biodiversität bei den Zugvögeln“, sagt Südbeck.
Die zentrale Aufgabe eines Nationalparks ist es, die Natur vor menschlichen Eingriffen zu schützen. Das niedersächsische Wattenmeer ist außerdem Unesco-Weltnaturerbe und Biosphärenreservat. Dennoch tummeln sich hier alljährlich Millionen Touristen – ein Widerspruch? Auf jeden Fall eine schwierige Gratwanderung, denn der Tourismus ist neben der Landwirtschaft der größte Wirtschaftsfaktor an der Küste. Doch Südbeck hat Hoffnung; denn die intakte Natur des Wattenmeeres sei die Voraussetzung dafür, dass es so viele Menschen im Urlaub an die Nordseeküste zieht. „Dieser Tourismus in unserer Region würde nicht so stattfinden, wenn die Leute in eine geschädigte Landschaft kämen“, ist er überzeugt.
Die meisten Hoteliers und Bürgermeister an der Küste und auch auf den Inseln akzeptierten die Regeln und Einschränkungen, die der Nationalpark mit sich bringe, sagt er. Zum Beispiel, dass die Trendsportart Kitesurfen nur in ausgewiesenen Zonen erlaubt ist. Wegen des Ansturms nach dem Corona-Lockdown habe es allerdings mehr Übertretungen gegeben: Urlauber seien häufiger durch Dünen getrampelt oder allein ins Watt gelaufen.
Dabei gibt es eine Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung des Fremdenverkehrs, ein gemeinsam erarbeitetes Strategiepapier. Darin steht viel von Verantwortung, Fortbildung und Qualität statt Masse. Die Strategie sei eine gute Grundlage, müsse aber auch konsequent umgesetzt werden, fordert Hans-Ulrich Rösner, Leiter des Wattenmeerbüros des WWF in Husum. Der WWF sei mit der aktuellen Situation im Nationalpark zwar zufrieden. Doch der Andrang in diesen Corona-Jahren macht den Umweltschützern Sorgen: Ist es eventuell ein Blick in die Zukunft? Die Rufe nach einer Ausweitung der Saison über die Sommermonate hinaus, der Bau von Wellness-Hotels – der WWF fragt sich, ob die Nationalpark-Regeln stark genug sind, ein nicht-nachhaltiges Wachstum zu verhindern.
Nur jeder fünfte Urlauber an der Nordsee macht eine Wattwanderung
Die Wattwander-Gruppe ist derweil nach mehr als drei Stunden schlickverschmiert auf dem Rückweg zum Festland. Was die Zahl der Teilnehmer angeht, ist noch Luft nach oben: Bislang macht nur jeder fünfte Urlauber an der Nordsee solch eine Wanderung mit. Eine junge Frau mit dunklen Locken aus dem Saarland ist begeistert. Und sie hat auch Verständnis dafür, dass im Wattenmeer viel verboten und reglementiert ist: Die Wege nicht verlassen, Hunde an die Leine, keine Drachen steigen lassen, nichts aus dem Watt mitnehmen. „Wenn man sich ein bisschen mit der Region befasst, dann weiß man einfach, dass die Natur hier Vorrang hat“, sagt sie. All die vielen Hotels und Ferienwohnungen – was bringe es schon, immer mehr Geld zu verdienen, wenn damit die Natur zerstört werde.
Als wir am Ufer angekommen sind und an Strandduschen den Schlick von den Beinen waschen, sagt Joke Pouliart noch, dass der existenzielle Schock des Corona-Lockdowns eine Gelegenheit gewesen wäre, die Strategie des Weltnaturerbes Wattenmeer für einen nachhaltigen Tourismus intensiver umzusetzen. Doch diese Chance werde gerade vertan. „Man sieht ja, wie schnell wir hier wieder in eine Normalität hereinkommen, in der es nur darum geht, jetzt wieder Geld zu verdienen. Und das Thema Nachhaltigkeit wird da nur von denen auch umgesetzt, die sowieso an dem Thema dran waren.“