Auf der Fähre nach Hiddensee ist Corona weit weg und der nächste Passagier ziemlich nah. Als die „Gellert“ im Hafen von Schaprode festmacht, hat sich am Anleger eine dichte Schlange von Touristen gebildet. Sie alle wollen rüber nach Hiddensee, eine Nase voll Meerluft nehmen, die Natur an der Ostsee genießen, vor allem aber die Freiheit, wieder reisen zu können. „Der Lockdown ist uns ziemlich auf die Nerven gegangen“, erzählt einer. Seinen Mund-Nasen-Schutz hat er locker um den Hals hängen. Später, während der Überfahrt, wird er ihn tragen. Tragen müssen. Auf allen Fährschiffen der Reederei Hiddensee herrscht Maskenpflicht in dieser ungewöhnlichen Urlaubssaison.
50 Kilometer vom Fährhafen Schaprode entfernt, im Rügener Küstenörtchen Sassnitz, sitzt Christian Reuter in seinem Büro vor einem Berg unerledigter Aufgaben. Auch er „jongliert“ an diesem Tag Touristen. Es gibt noch immer Umbuchungen, die seit dem Lockdown Mitte März angefallen sind, weil Gäste plötzlich nicht mehr auf die Insel durften. Zwischen 200 und 300 dürften es allein für März und April gewesen sein, schätzt der Geschäftsführer der Rügener Zimmervermittlung, die auf der Urlaubsinsel rund 170 Ferienwohnungen und -häuser betreut.
Das vorläufige Aus für den Tourismus hat seine Firma stark getroffen. Die Saisonkräfte, die er Anfang März gerade erst wieder eingestellt hatte, musste Reuter zwei Wochen später in Kurzarbeit schicken. Lediglich einige wenige Handwerker, die die Offshore-Anlagen auf dem Meer betreuen, teilten sich im Frühjahr auf die vielen Zimmer auf. Davon abgesehen herrschte Ruhe. Absolute Ruhe. „Wäre das im Juni auch noch so geblieben, wären auf der Insel 80 Prozent der Leute pleite gegangen“, befürchtet Reuter. Auch er hätte dann einen Kredit aufnehmen müssen.
Die Insel Rügen hat neben blau-weißen Strandkörben auch teure Hotels und edle Boutiquen
Doch nun sind sie wieder da, die Touristen, und es sind offenbar mehr als zuvor: „Im Juni haben wir unsere Auslastung im Vergleich zum vergangenen Jahr verdoppelt“, schätzt Reuter. Was Experten auch sagen: Es kommen neue, teilweise jüngere Gäste mit anderen Ansprüchen. Petra und Friedrich, ein junges Pärchen aus dem Rheinland zum Beispiel. Normalerweise machen sie im Frühsommer Urlaub in Spanien oder Griechenland. „Jetzt, mit Corona, war uns das zu unsicher“, sagen sie und haben spontan Rügen gebucht. So wie viele Gäste, die dieses Jahr aus Angst vor dem Virus lieber Urlaub im eigenen Land machen als irgendwo jenseits der Grenzen.
„Eigentlich hatten wir uns Deutschland für die Rente vorgenommen“, sagen Petra und Friedrich, beide um die 40. Inzwischen finden sie, die Insel hat auch für jüngere Leute einiges zu bieten. Als erstes natürlich die Ostsee samt ihrer 60 Kilometer Strand. FKK-Strände, Hundestrände, Textilstrände, barrierefreie Strände, bewachte Strände, Sandstrände, Kiesstrände, einsame Strände – na ja, eben viele Strände. Surfer fühlen sich seit Jahren davon angezogen, inzwischen kommen vor allem Kite-Surfer, die ihre Bretter von Lenkdrachen ziehen lassen. Am schmalen Kiesstrand von Haide ist der Himmel an windreichen Tagen von Segeln gesprenkelt. Vom Surfhostel nebenan trägt der Wind Reggae-Fetzen über die Dünen. Ein bisschen fühlt sich das an wie eine Reminiszenz an die Hippie-Bewegung der 60er, nur gesünder: Auf der Speisekarte im Hostel stehen vornehmlich vegane Gerichte.
Im Ostseebad Binz urlauben normalerweise Gäste mit gehobeneren Ansprüchen. Die Hotels sind hier teurer, die Boutiquen edler, am Meer kann man sich für den Urlaub einen der blau-weiß gestreiften Strandkörbe mieten. Doch auch hier müssen sich Touristiker in Corona-Zeiten auf andere Bedürfnisse einstellen: Die Anfragen nach unbefestigten Radwegen – sogenannten Gravel Routes – sei diesen Sommer so hoch wie bislang nie, erzählen Mitarbeiter der Tourist-Information. Ein Hinweis auf jüngere Kunden. Überhaupt spielt Radfahren auf der Insel mit ihren rund 800 Kilometern an Radwegen eine bedeutende Rolle. Leute mit Kondition (und wetterfester Kleidung) könnten theoretisch ihre gesamten Ferien auf zwei Rädern verbringen: Das Wegenetz ist dicht, die meisten Routen sind weitgehend flach. Und den Wind muss man sich eben so gut wie möglich im Rücken halten…
Das touristische Jahr auf Rügen ist erst am Anfang. „Unser Geld verdienen wir in der Regel zwischen Juni und September“, sagt Christian Reuter von der Rügener Zimmervermittlung. So wie sich die Zahlen aber jetzt schon entwickeln, hofft er, dass der Tourismus einigermaßen heil aus der Krise kommen könnte – vorausgesetzt, es gebe keine zweite Welle. Dabei hat die Insel bislang ja nicht einmal die erste erlebt: Aktuell ist auf Rügen kein Corona-Infizierter gemeldet, selbst zu den akutesten Zeiten waren es weniger als zehn. Entsprechend sorglos gehen Einheimische wie Touristen mit der Gefahr einer Ansteckung um.
Die Verkäuferin in einem Kleidungsgeschäft in Bergen zum Beispiel sagt ihren Kunden, sie könnten gerne die Maske abnehmen, weil Bummeln dann doch viel angenehmer sei. Ein paar Meter weiter, in einem Restaurant, erklärt die Bedienung ihren Gästen die Regeln, während sie ihnen Desinfektionsmittel auf die Hände träufelt: Nur die Angestellten, sagt sie, müssten hier Mund-Nasen-Schutz tragen. „Sie als Besucher brauchen das nicht.“ Im Lokal daneben dagegen gilt: Maske ab nur am Tisch. Wer sich im Lokal bewegt, muss sie aufsetzen.
Es scheint, als wäre vielen hier selbst nicht so klar, welche Regeln denn nun gerade gelten. „Wenn wundert das auch, es ändert sich doch ständig“, schimpft eine ältere Dame, die an einem der Räucherkutter im Sassnitzer Hafen mit mehreren anderen Leuten für ein frisches Fischbrötchen ansteht. Ein Gedrängel gibt es nicht, das Paar hinter ihr hält aber keine eineinhalb Meter Abstand. „Irgendwie war es im Lockdown ganz schön ohne Touristen. So ruhig“, sagt die Frau.
Urlaub auf der Insel Rügen: Aktuell ist die Lage trotz Corona entspannt
Christian Reuter ist da anderer Meinung. „Ich würde auch mit Clownsnase und Hut zum Einkaufen gehen, wenn man nur die Touristen weiter kommen lässt.“ Er sei, sagt der junge Mann, kein panischer Typ. Doch die Angst, dass mit den Touristen auch Corona auf die Insel kommt, begleitet ihn und viele andere. Manchen ist gar bange, Rügen könnte sich zu einem „zweiten Ischgl“ entwickeln.
Auch der Mitarbeiter einer Tanke am Ortsrand von Sassnitz ist etwas beunruhigt, vertraut aber auf die Behörden. „Sie kontrollieren hier auf der Insel recht gut“, erzählt er, nachdem er einen Kunden freundlich darauf hingewiesen hat, doch bitte die Maske anzuziehen. Er selbst trägt seine locker unter dem Kinn, man kann ihn lächeln sehen hinter seiner Plexiglasscheibe. Ein fast schon ungewohnter Anblick in diesen Tagen. Rügen, sagt der Mann, habe in seinem Krankenhaus keine zehn Intensivbetten. Würde Corona hier richtig ausbrechen, man müsste die Patienten aufs Festland bringen, glaubt er.
Aktuell aber ist die Lage entspannt auf Deutschlands beliebtester Ferieninsel, die vergangenes Jahr rund 7,2 Millionen Gästeübernachtungen zählte – mehr als Sylt. Schon damals kamen 94 Prozent der Touristen aus Deutschland, dieses Jahr werden es vermutlich noch mehr sein. Christian Reuter von der Rügener Zimmervermittlung vermutet, dass auch die Zahl der Besucher aus dem Süden Deutschlands zunehmen könnte. „Die fahren normalerweise eher nach Italien oder Kroatien.“ Wegen der Pandemie hätten viele solche Ziele nun erst einmal von ihrer Urlaubskarte gestrichen. Dafür fehlen aus Rügen momentan die Gäste aus dem benachbarten Schweden oder aus Holland – trotz der kurzen Wege.
Viele Hoteliers und Wohnungsbesitzer auf der Insel haben den Lockdown für Renovierungen genutzt, die eigentlich erst später geplant waren. Teilweise, sagt Christian Reuter, habe sich das auf die Preise ausgewirkt: „Manche haben um zehn bis 20 Prozent erhöht.“ Die Rügener Zimmervermittlung nimmt nicht mehr Geld, hat aber Rabatte gestrichen. Die gab es normalerweise, wenn Ferienwohnungen bis zu einer Woche vor dem möglichen Bezugstermin noch nicht vermietet waren. „Das haben wir dieses Jahr alles rausgenommen, weil wir wissen: Wir kriegen das alles noch weg.“
Auch wenn die Speiselokale auf der Ostseeinsel schon jetzt zum Teil über Wochen ausgebucht sind, auch wenn die beliebteren Strände gut besucht sind – Rügen könnte noch mehr Touristen verkraften, ist sich Christian Reuter sicher. Allerdings unter einer Voraussetzung: „Man müsste den Verkehr von der Straße bekommen und das Busnetz so ausbauen, dass man zu jeder Zeit überall gut hinkommt.“ Bislang habe die Insel das nicht geschafft, weil sich jede Kommune selbst vermarktet. Das geht so weit, dass es auf der Insel fünf verschiedene Systeme zur Abrechnung der Kurtaxe gibt. „Solange wir solche Dinge nicht vereinheitlichen können, wird es auch mit anderen gemeinsamen Initiativen nichts“, fürchtet Reuter.
Abgesagt ist für dieses Jahr auch ein großes kulturelles Ereignis auf der Insel: die Störtebeker Festspiele auf der Naturbühne Ralswiek. Weil Großveranstaltungen aktuell bis 31. August unzulässig sind, wird auch aus dem großen Freiluftspektakel nichts. Nun will man kommendes Jahr durchstarten. Vielleicht mit noch mehr Besuchern, die Rügen in diesem Jahr neu für sich entdeckt haben.
Hoffentlich aber ohne Corona, jenem Virus, dass diesen Sommer auf der Ostseeinsel ein für alle Mal verändert hat.
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