Regentropfen prasseln sanft auf die Autoscheibe, ohne Scheibenwischer geht es jetzt doch nicht mehr. Obwohl Touristenführer und Fahrer Mark Smudzinski diesen Hebel an seinem Auto äußerst selten benötigt, findet er ihn gleich. Auf Regen haben sie hier in Arizona jetzt lange genug gewartet. Im März hatte es zuletzt ein wenig getröpfelt. Guide Mark bezweifelt aber, dass es das ersehnte Nass damals überhaupt durch die heiße Wüstenluft auf den Boden geschafft hatte. Jetzt ist es aber wirklich so weit: Wasser benetzt den ausgezehrten Boden der Sonorawüste.
Wer hier bei mehr als 40 Grad im Schatten auf sandigem Grund steht, dem fällt es schwer zu glauben, dass das die feuchteste Wüste der Welt sein soll. Doch zwei Regenzeiten pro Jahr bescheren der Sonorawüste mehr Niederschlag als jeder anderen. Zwischen Dezember und März sowie Juli bis September fallen insgesamt zwischen 76 und 500 Millimeter Regen. Die Jahre, in denen die Niederschlagsmenge eher am oberen Ende dieser Spanne liegt, sind ein Segen für die Tier- und Pflanzenwelt, die so divers und artenreich ist wie in kaum einer anderen Wüstenlandschaft. Einmalig sind dabei die Saguaro-Kakteen, die nicht umsonst den wissenschaftlichen Namen Carnegiea gigantea tragen. Sie werden oft höher als zwölf Meter, sind damit die größten Kakteen der Welt und wachsen nur in der Sonorawüste.
Die Sonorawüste ist die feuchteste Wüste der Welt
Die majestätischen und streng geschützten Pflanzen, die zu einem Symbol für den Wilden Westen der USA wurden, sind eine Hauptattraktion des südlichen Arizona, das es als Touristendestination nicht leicht hat gegen den Norden des Staates. Dort lockt der Grand Canyon, dem Arizona seinen Beinamen „Grand Canyon State“ verdankt. Auch das Monument Valley oder der Antelope Canyon gehören zu den beeindruckenden Landschaften, die kaum ein Reisender verpassen will. Ein Abstecher in den Süden lohnt sich dennoch. Denn Südarizona und die Sonorawüste haben noch einiges mehr zu bieten als Riesenkakteen.
Tucson, etwa eineinhalb Stunden von der mexikanischen Grenze entfernt, entpuppt sich als guter Ausgangspunkt für Erkundungstouren. Dabei wartet die Stadt selbst mit einer beeindruckenden Geschichte auf. Archäologische Funde legen nahe, dass die Gegend um die längste durchgehend besiedelte Region des amerikanischen Kontinents sein soll. Und wo Menschen sind, müssen diese schließlich auch etwas essen. Die Unesco machte Tucson dank seiner langen Siedlungsgeschichte zu einer ihrer offiziellen Gastronomie-Städte. Nachhaltigkeit und die Förderung „kreativer Esskultur“ hat sich die Stadt dabei auf die Fahnen geschrieben.
Lokale Betriebe engagieren sich dafür, was durchaus Früchte trägt. Erst im Juni gewann der Tucsoner Don Guerra den James Beard Award (der renommierte Preis gilt gemeinhin als der „Oscar der Köche“) als bester Bäcker der USA. Seine Brote backt er nach traditionellen Methoden und ohne Zusatzstoffe. Zugegeben, schlecht ist Guerras Backwerk nicht, den brotverwöhnten deutschen Gaumen versetzt es aber nicht in dieselben Begeisterungsstürme wie die James Beard Jury.
Guerras Brote entstehen mit Mehl aus alten Getreidesorten. Sorten, die schon die ersten westlichen Siedler, die in die Gegend kamen, anbauten. Die gemeinnützige Organisation „Mission Garden“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, eben solche alten Getreidearten, insgesamt die jahrhunderte- oder gar jahrtausendealte landwirtschaftliche Geschichte der kargen Region zu bewahren. Kendall Kroesen ist Anthropologe und führt Besucherinnen und Besucher durch „Mission Garden“. Seinen Namen verdankt das Projekt zwar dem ummauerten Missionsgarten europäischer Siedler, die sich auf diese Weise vor den Angriffen amerikanischer Ureinwohner schützen wollten. Mit den weiß getünchten Mauern ist der Garten einer dieser Orte, an denen man sich direkt in einen Western versetzt fühlt.
Im „Mission Garden“ zeigt Kroesen auch, wie die indigenen Völker lange vor der Ankunft der spanischen Siedler mit ihren Orangenbäumen, Aprikosen oder Weizenpflanzen Ackerbau betrieben und dem heißen Klima ihre Ernte abgetrotzt haben. Mais, Bohnen, Kürbisse und Baumwollpflanzen haben die einheimischen Stämme angebaut. Bislang gingen Archäologen davon aus, dass die Region Tucson seit etwas mehr als 4000 Jahren besiedelt ist. Vielleicht muss diese Zahl bald korrigiert werden. Ein kürzlich gefundenes Maiskorn wurde auf 5000 Jahre datiert. Unter den trockenen Bedingungen Arizonas halten sich auch Lebensmittelreste besonders gut, sagt Anthropologe Kroesen.
Das Luft-und Raumfahrtmuseum liegt in der Nähe von Tucson
Doch nicht nur für archäologische Funde bietet die Sonorawüste das perfekte Klima. Auch Flugzeuge können dort ewig draußen stehen, ohne zu rosten. In riesigen Flugzeugfriedhöfen stehen ausrangierte Flieger, um bei Bedarf als Ersatzteilspender zu fungieren. Während der Corona-Pandemie war die Wüste der perfekte Parkplatz für die nicht gebrauchten gebrauchten Flieger. Auch eines der weltweit größten Luft- und Raumfahrtmuseen findet sich in der Nähe von Tucson. Mehr als 400 historische Flugzeuge können in sechs Hangars und dem gut 30 Hektar großen Außenareal besichtigt werden. Unter den Fliegern finden sich die ersten Modelle der Gebrüder Wright, viele Militärmaschinen, eine Air Force One, mit der mehrere Präsidenten geflogen sein sollen, und auch kommerzielle Linienflugzeuge.
Ob der Gärtner in der Hotelanlage oder die Galeristin in der noblen Innenstadt von Scottsdale: Für unbedarfte Touristen hat jeder denselben Ratschlag parat. „Stay hydrated!“ Trink genug Wasser. Die Menschen in Arizona sind stolz auf ihre Herkunft. Darauf, dass sie es als Wüstenbewohner schaffen, Hitze und Trockenheit zu trotzen. Dazu haben sie einige Strategien entwickelt, die auch Touristen nutzen können. Etwa den Tag früher zu beginnen, sodass vieles schon geschafft ist, bevor die Sonne unbarmherzig vom Himmel strahlt. Wenn es doch unerträglich zu werden droht, ziehen sich die Einwohnerinnen und Einwohner Tucsons auch gern in die Berge zurück, von denen die Stadt umschlossen ist. Das Örtchen Summerhaven ist so etwas wie ein sicherer Hafen in der Sommerhitze. In 2500 Meter Höhe in einem schattigen Mischwald auf dem Mount Lemmon gelegen ist es ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer.
Die Saguaro-Kakteen sind nützlich für Mensch und Tier
Auf dem Weg nach Summerhaven begegnet man alten Bekannten. Von weiter weg wirkt der Berg wie ein Nadelkissen, das mit hunderten Stecknadeln gespickt ist. Tatsächlich ist es ein Wald aus hunderten Saguaro-Kakteen. Jetzt, am Ende der Trockenzeit, zeichnen sich die Rippen besonders gut ab. Die Wasservorräte, die die Pflanzen in ihrem Inneren speichern, sind langsam erschöpft. Die Riesenkakteen, die weit über hundert Jahre alt werden können, faszinieren und sind dabei auch äußerst nützlich. Der Gila-Specht etwa baut sich darin seine Bruthöhle, die nach ihm noch vielen weiteren Vogelarten als Nistplatz dient. Auch Menschen nutzen den Kaktus schon lange. Einerseits als Nahrung – aus den essbaren Früchten entsteht zum Beispiel Marmelade. Andererseits dienten die Gerippe toter Saguaros dem Stamm der Tohono O’odham als Baumaterial.
Laien können das Alter eines Saguaros grob an der Anzahl seiner Arme abschätzen. Denn die bekommt der Riesenkaktus erst nach gut 60 Jahren. Die Wurzeln eines Saguaro sind etwa so lang, wie der Kaktus hoch ist, und liegen dicht an der Erdoberfläche. Sie können jahrelang ohne Regen überleben und werden teils von örtlichen Behörden gechipt, um sie vor Diebstahl zu schützen. Fakten wie diese erfährt man im botanischen Garten Tohono Chul, den das Magazin National Geographic Traveler zu seinen Top-22-Garten-Geheimtipps in Nordamerika zählt. Ehrenamtliche Guides wollen Besucherinnen und Besuchern neben der Natur auch die Kultur der Sonorawüste näherbringen. Der botanische Garten ist Teil der lebendigen Kunstszene der Region. Neben Pflanzen gibt es in dem botanischen Garten auch Kunstausstellungen zu sehen.
Die Sonorawüste inspiriert auch die Kunstszene
Die Wüste scheint seit jeher eine besondere Inspirationsquelle für Kunst- und Kulturschaffende zu sein. Mit Ettore (genannt Ted) DeGrazia brachte die Sonorawüste einen der teuersten Künstler seiner Zeit hervor. Seinen Durchbruch hatte DeGrazia 1960, als Unicef eines seiner Motive für Grußkarten verwendete, was ihm den Ruf als „meistreproduzierter Künstler der Welt“ einbrachte. Der exzentrische Maler baute sich nahe Tucson mithilfe indianischer Freunde und mit teilweise uralten Bautechniken seine „Gallery in the Sun“.
Auch Frank Lloyd Wright, Architekt des New Yorker Guggenheim Museums und des berühmten Privathauses Fallingwater in Pennsylvania, zog es in die Sonorawüste. Seine Studenten ließ er in den 1930er Jahren nahe Phoenix mit bloßen Händen sein Winterquartier Taliesin West errichten. Den Gebäudekomplex gestaltete Wright so, dass er sich bestmöglich in die Wüstenlandschaft einfügt. Die Dachneigung etwa passte er auf den Grad genau dem Berg am Horizont an.
Am schönsten ist die Sonorawüste zum Sonnenaufgang aus dem Heißluftballon
Noch heute gibt es in Südarizona eine aktive Kunstszene. Im schicken Scottsdale zum Beispiel, das zur Metropolregion Phoenix gehört, reiht sich eine Galerie an die nächste. Von bezahlbar bis teuer, von aufstrebenden bis zu etablierten Künstlerinnen und Künstlern – hier wird jeder fündig.
Ihre volle Faszination entfaltet die Sonorawüste nach einem Perspektivwechsel. Im Heißluftballon schweben Reisende bequem über die Wüste, beliebt sind besonders die Touren zum Sonnenaufgang. Trocken gefallen Wasserläufe, kleine Büsche und Agaven ziehen unter dem Ballon vorbei. Langsam kommt Leben in die Wüste. Vögel flattern um die Pflanzen herum, Kaninchen hoppeln aus dem Bau, verwilderte Esel suchen nach Nahrung. Und auch hier fehlen die riesigen Saguaros nicht. Mit ihren nach oben gestreckten Armen begrüßen sie die Ballonpassagiere zurück auf dem staubigen Wüstenboden Arizonas.