Es ist ein bisschen wie bei Harry Potter. Am Londoner Bahnhof King’s Cross geht es am Gleis 9 ¾ in die magische Welt. Der Zugang ist unscheinbar, und nur Eingeweihte wissen um seine Existenz. In der Medina von Fès, eine der vier Königsstädte in Marokko, ist es die Hausnummer 10, die in eine andere, eine faszinierende und erstaunliche Welt führt.
Die schmale Türe, die sich in der größten Altstadt der Welt mit ihren 9400 Gassen auftut, ist sinnbildlich für Marokko. Früher oder später tritt man immer durch ein Tor, eine Türe, eine Pforte – und was sich dahinter auftut, ist berauschend, überraschend, überbordend. Vom Atlas-Gebirge bis zum Atlantik: Marokko überrascht seine Besucherinnen und Besucher mit Unerwartetem, mit opulenter Schönheit und prächtigen Aussichten.
Wer Marokko bereist sollte sich Fès nicht entgehen lassen
Wer Marokko bereist, sollte sich Fès nicht entgehen lassen. Deren Altstadt aus dem 9. Jahrhundert gehört zum Unesco-Weltkulturerbe und darf nur zu Fuß betreten werden – ganz im Gegensatz zu jener in Marrakesch, wo durch die Gassen auch Mopedfahrer durch die Menschenmassen rauschen. Die Souks dort sind traditioneller, die Händler den Touristinnen und Touristen gegenüber weniger anpreisend. Hier fällt es leichter, sich treiben zu lassen – vorbei an Bergen von Koriander und Minze, an Obst und eingelegten Oliven und Ständen mit Fleisch und Fisch, das ungekühlt auf der Theke dargeboten wird. Ein Albtraum für jeden deutschen Lebensmittelhygieniker, ein Festschmaus für die Sinne. Frauen ziehen mit ihren Händen hauchdünn Filoteig auseinander und backen ihn anschließend über einem heißen Stein. Männer klopfen unermüdlich filigrane Muster in Metallplatten, aus denen später die typisch orientalischen Lampen hergestellt werden. Gürtel, Töpfe, Gewürze, Kleidung, IT-Zubehör, Körbe, Keramik, Teppiche – es gibt quasi nichts, das es in den Souks nicht gibt. Je tiefer man in die Medina eindringt, desto mehr verliert sich das Moderne – Touristen inklusive.
In diesem Wirrwarr der Gassen, hinter der Hausnummer 10, tut sich die Welt einer uralten Handwerkstradition auf, für die insbesondere Fès berühmt ist: die Lederproduktion. Ein paar schmale Treppen hoch, vorbei an deckenhoch gestapelten Taschen und Schuhen in allerlei Farben, geht es hinaus auf eine Terrasse. Oder besser gesagt: eine Tribüne, vor der sich die größte Gerberei und Färberei der Stadt präsentiert.
Der Geruch in der Luft ist beißend – auch jetzt im Frühling, wo die Temperaturen noch angenehm mild sind. Man mag sich nicht vorstellen, wie sich der Gestank im Hochsommer über den Dutzenden von Bottichen staut, in denen die Tierfelle in einer aufwendigen und wochenlangen Prozedur enthaart, gereinigt, weich geknetet und gefärbt werden. Gerber ist einer der ältesten Handwerksberufe – und ein knochenharter Job dazu.
Ein Gefühl von 1001 Nacht mitten in Marrakesch
Alles beginnt mit der Reinigung der Ziegen-, Schafs-, Pferde- oder Kuhhäute in einem Gemisch aus Wasser, Gips und Taubenkot, in dem der Gerber selbst hüfthoch steht. Immer und immer wieder werden die Häute von ihm darin gewendet, gewalkt, mit den Füßen getreten und ausgewrungen, ehe sich alle Haare in der sauren Flüssigkeit aufgelöst haben. Anschließend werden sie solange in Taubenmist, Salz und Getreide gebadet, bis aus der enthaarten Haut weiches, weißes Leder wird. Nach der Reinigung in einer großen, hölzernen Waschtrommel wird es dann getrocknet und gefärbt – in leuchtendes Gelb, sattes Rot oder gedecktes Blau. Mehrere Wochen dauert der gesamte Prozess. Es ist ein Schauspiel, das fasziniert, irritiert – und den einen oder anderen auch demütig macht.
Überflutet von den Eindrücken der Souks, ist der späte Nachmittag dann genau der richtige Zeitpunkt, sich auf den Weg in die Unterkunft zu machen. Nirgendwo anders kommt man dem Gefühl von 1001 Nacht näher als in einem Riad, diesem für Marokko so typischen Atriumhaus, dessen Schönheit und Ausmaß erst erkennbar wird, wenn man durch die meist schlichte Eingangstüre getreten ist.
Es sind beeindruckende Unterkünfte, die sich teilweise über mehrere Anwesen erstrecken, wobei sich die Bereiche in ihrer Gestaltung oft unterscheiden. Und so bleibt die erhoffte Verschnaufpause für den Kopf vergeblich aus. Man staunt, entdeckt, ist verzückt und hadert mit der Entscheidung, an welchem Ort, auf welchem Stuhl, mit welchem Ausblick man sich zuerst niederlassen sollte. In den Innenhöfen gibt es Gärten, Pools und Brunnen – und einladende Sitzgelegenheiten an jeder Ecke. Das Leben drinnen spielt sich draußen ab. Wer vom Treiben auf den Straßen etwas mitbekommen möchte, der flaniert über die Terrassen, die sich oft weitläufig über den Häusern erstrecken. Mit einem Minztee in der Hand genießt man dort oben die Sonne, die Ruhe, den Moment.
Wer Marokko sagt, meint ganz oft Marrakesch. Jene Stadt, die allein schon durch ihren Namen betört. Die Perle des Südens gilt als Einfallstor für Reisende ins Land – und hat sich entsprechend darauf eingerichtet. In der Medina nahe des berühmten Marktplatzes Djemaa el Fna gibt es gefälschte Luis-Vuitton-Täschchen und Sonnenhüte mit bunten „Maroq“-Aufnähern – die Nachfrage bestimmt offenbar das Angebot.
Die Händler in Marrakesch sind zurückhaltender geworden
Die Händler sind mittlerweile etwas gnädiger mit den Besucherinnen und Besuchern geworden und gestatten ihnen einen Blick auf ihre Waren, ohne gleich die Feilsch-Maschinerie in Gang zu setzen. Ob das an der Corona-Pandemie oder an der TV-Kampagne liegt, in der die Regierung die Verkäufer zu mehr Zurückhaltung gegenüber den Touristen ermunterte, weil das deren Kauflust steigern würde, lässt sich nicht klären. Doch nicht nur ob der schieren Fülle des Angebots bleibt ein Besuch in den Souks anstrengend – insbesondere dann, wenn einem die fliegenden Händler nur durch nachdrückliche Bestimmtheit von der Seite weichen wollen.
Durchhaltevermögen ist für so manche Gäste auch im Jardin Majorelle vonnöten. Die Gartenanlage mit ihren Kakteen aus aller Welten ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit in Marokko – was zumindest seit Instagram nicht nur an den Pflanzen, sondern insbesondere an einem blau gestrichenen Portal liegt. Es ist nicht irgendein Blau, das sich auf dem Areal überall wiederfindet. Es ist das Blau schlechthin – Majorelle-Blau, um genau zu sein. Der Begründer des Gartens, der französische Maler Jacques Majorelle, hat einst sein Atelier, Betonsockel und Pflanzentröge in dieser Farbe streichen lassen. Und damit ein einmaliges Markenzeichen geschaffen, das auch die späteren Eigentümer Yves Saint Laurent und sein Lebenspartner Pierre Bergé übernommen haben.
Heute posieren täglich Hunderte von Influencerinnen und Content-Creatern unbeeindruckt der unzähligen Beobachter vor der knalligen Kult-Kulisse. Die Bilder sind später millionenfach im Netz zu finden. In der Hochsaison kann es da schon einmal mehrere Stunden dauern, ehe das ersehnte Must-have-Foto geknipst werden kann.
Der Ansturm ist jedoch nichts im Vergleich zu dem, was sich zu Ramadan in Casablanca abspielt. Bis zu 100.000 Muslime pilgern während der Fastenzeit insbesondere an den Freitagen zur Moschee Hassan II. Das Wahrzeichen Casablancas bietet hinter seinen gewaltigen Pforten Platz für bis zu 25.000 Gläubige in der 100 mal 200 großen Gebetshalle und ist damit eine der größten Moscheen weltweit.
Casablanca präsentiert sich als die moderne Seite Marokkos – auch, was den Glauben betrifft. So können in der Moschee nicht nur bis zu 5000 Frauen auf separat abgetrennten Balkonen beten – was vergleichsweise viel ist –, die Moschee steht auch als einziges Gebetshaus Marokkos andersgläubigen Touristinnen und Touristen offen.
Schon allein die schiere Größe dieses Bauwerks beeindruckt. Erbaut in den Jahren 1987 bis 1993, sollte es eine Huldigung für König Hassan II. sein. Doch die anfängliche Begeisterung beim Volk versiegte, als den Planern die Kosten davon liefen und zur Finanzierung eine Art Steuer eingeführt werden musste – ähnlich des Solidaritätszuschlags nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Wie viel die Moschee am Ende gekostet hat, darüber lässt sich nur spekulieren: Die Rede ist von 400 bis 700 Millionen US-Dollar.
Ein besonderer Clou der Moschee ist das „Tor in den Himmel“. Innerhalb weniger Minuten können zwei große Dachelemente elektrisch auseinander geschoben werden. Die technische Raffinesse bietet neben einem freien Blick zu den Sternen auch eine natürliche Belüftung für die Betenden.
Ein Mythos bleibt in Casablanca für immer erhalten
Apropos Blick: Als Humphrey Bogart anno 1942 „seiner“ Ingrid Bergman tief in die Augen sah, tat er dies nicht in Casablanca. Der Film wurde komplett in den Hollywood-Studios gedreht, und deshalb gab es auch nie Rick’s Café, in dem Humphrey Bogart den draufgängerischen Barbesitzer Rick Blaine mimt. Zumindest bis 2004.
Dann nämlich ließ die US-Diplomatin Kathy Kriger das mittlerweile legendäre Café nach original Filmvorlage in Casablanca bauen. So mancher Gast sitzt heute dort und lauscht dem Pianisten, wie er versonnen „As time goes by“ spielt – ohne zu wissen, welcher Scheinwelt er erliegt.
Doch vielleicht ist es genau das am Ende, was Marokko so reizvoll macht. Man lässt sich verführen, hinter unbekannte Türen zu treten und neugierig zu entdecken, was sich dort verbirgt und auftut – in dieser anderen Welt.
Die Recherchen wurden unterstützt von Enchanting Travels und dem marokkanischen Fremdenverkehrsamt.